Ich hau ab!
Weite Welt statt Eberswalde
Zusammenfassung
Nein, dies ist keine lustig zusammengesponnene Geschichte. So ist es gewesen. Was uns Jahrzehnte danach witzig vorkommt, war damals überhaupt nicht zum Lachen. Kaum aus der Schule, hat sich Ulli Krause die Seefahrt als Lebensperspektive erträumt – er will etwas von der Welt sehen. In der »Ostzone« ein ziemlich hoher Anspruch für einen Jungen, der sein karges Taschengeld mit alltäglichen Gelegenheiten verdient.
Ulli merkt bald, dass ein Arbeiter- und Bauernstaat ihn nicht zum Ziel bringt. Er will sein Leben selbst in die Hand nehmen, sich aus der Fremdbestimmung befreien. Kurzum: »Ich hau ab! Raus aus Eberswalde!«
Doch diese Initiative passt einfach nicht zum behördlichen Ordnungssinn. Es scheint, dass das Schicksal ihn eher für die Landwirtschaft als für die Seefahrt vorgesehen hat. Und als er nach langer Odyssee doch dort ankommt, hat das Leben noch manche Prüfung für ihn …
Ist es so: Wer ein Ziel hat und es nicht aufgibt, kommt irgendwann an! Zu einfach – das lässt sich mit etwas Logik leicht widerlegen. Und das widerum mit dieser Geschichte.
Ulli gibt zu: »Manchmal habe ich mich wirklich riskant und unklug verhalten. Aber wer weiß denn, was passiert wäre, wenn ich es nicht getan hätte?«
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kindheit in Eberswalde
Die Russen kommen!
»Ulli, Christel, schnell! Klettert da rauf und weint, gleich kommen die Russen!« Mutter hatte uns das aufgeregt zugerufen. Und deshalb standen meine Schwester und ich auf einem Hackklotz und weinten bitterlich. Margarete hatte gehört, dass die Russen kinderfreundlich sind. Vielleicht würde es nicht so schlimm werden. Sie hatte recht.
Der russische Offizier strich Christel tröstend übers Haar und stupste mir einen Finger unter die Nase. Dann zog er mit seinem Gefolge in das Haus und richtete eine Kommandantur ein. Der Offizier übernahm auch das Kommando im Haus und schnauzte seine Leute an, dass sie die Mutter nicht belästigen sollten. Er war ein gebildeter Mann und schützte Mutter Grete, wie sie allgemein genannt wurde, derart vor Übergriffen, dass er bald auch nachts nicht von ihrer Seite wich.
Unser Vater war noch in Gefangenschaft, aber keiner wusste wo. Bevor er in den Krieg ziehen musste, baute er noch einen Luftschutzbunker für unsere Familie – er ahnte wohl, dass der Krieg nicht zu gewinnen war. Und jetzt wusste niemand genau, wann und ob überhaupt er jemals wieder zurückkommen würde. Ich fand es toll, dass Mutter und der Offizier so nett zueinander waren.
»Komm Ulli, kannst mitfahren«, sagte er manchmal. Dann durfte ich die Straße runter und wieder rauf im Geländewagen mitfahren und es gab ein Stückchen Schokolade.
Einmal war Mutter Grete im Garten, um Gemüse zu ernten. Da kam ein Muskote, so hießen die einfachen Soldaten, und wollte ihr das Geerntete wegnehmen. Die Mutter aber hielt fest, was sie für das Mittagessen brauchte, wollte schnell damit ins Haus flüchten. Da hob der Russe sein Gewehr und wollte mit dem Kolben zuschlagen.
Trotz meiner vier Lebensjahre hatte ich sofort erkannt, dass Mutter in Gefahr war. Plötzlich fühlte ich Wut und Mut in mir und klammerte mich mit aller Kraft an ein Bein des Muskoten, um ihn zurückzuhalten.
In diesem Moment gab es einen Knall – und der Russe fiel um wie ein gefällter Baum. Er hatte ein Loch im Kopf. Mutters Beschützer hatte ihn erschossen. Christel, die das auch beobachtet hatte, war ins Haus gerannt und hatte die Hände noch auf die Ohren gepresst, als alles vorbei war und sie ängstlich aus der Tür schaute.
Der Offizier sagte nichts. Er notierte etwas auf einem Zettel, den er einem seiner Soldaten übergab. Der machte sich gerade, legte eine Hand an die Mütze und fuhr dann mit einem Motorrad davon.
Eine Stunde später fuhr ein Lastwagen auf den Hof. Vier Soldaten sprangen heraus, packten die Leiche an Armen und Beinen, warfen sie mit Schwung auf die Pritsche und fuhren wieder davon. Es war, als hätten sie nur aufgeräumt.
Ich hatte Bauchschmerzen.
»Komm rein, mein kleiner Ulli!«, rief Mutter. Aber ich ging zu meinem Freund, wie immer, wenn ich Trost suchte. Mein Freund hieß Rolf, hatte rote Haare, war mittelgroß, hatte vier Beine und ein scharfes Gebiss. Er lebte draußen in einer kleinen Hütte, an einer langen Kette, ein Hund – mein Hund.
Immer wenn Mutter Grete mich trösten wollte, nannte sie mich »mein kleiner Ulli«. Wenn sie aber wütend auf mich war und es was auf den Hintern geben sollte, verkroch ich mich in Rolfs Hütte. Dann saß Rolf solange knurrend und mit gefletschten Zähnen vor der Hütte, bis Mutters Ärger verflogen war und ein Lächeln über ihr Gesicht huschte. Das verstanden Rolf und ich als Friedensangebot, die Luft war wieder rein.
Rolf musste fast immer an der Kette bleiben, denn er hasste jede russische Uniform und war stets bereit, das Vaterland zu verteidigen. Manchmal aber, wenn keine Russen in der Nähe waren, ließen wir Rolf von der Kette. Dann raste er davon und genoss seine Freiheit.
Eines Tages kam er nicht mehr nach Hause.
Wir Kinder suchten die ganze Umgebung ab und fanden Rolf schließlich – mit einem Drahtschlinge um den Hals an einen Zaun gebunden. Sein Kopf war blutig und seine Zunge hing aus dem Maul, aber er lebte und winselte leise. Christel rannte nach Hause, um einen Handwagen zu holen. Ich löste inzwischen vorsichtig den Draht von Rolfs Kopf und sah den Einschuss direkt neben Rolfs Auge. Ein Wunder, dass die Kugel nicht tödlich war.
Mutter und Christel kamen mit dem Bollerwagen. Sie wickelten Rolf ein Bettlaken um Hals und Kopf. Gemeinsam packen wir Rolf vorsichtig auf den Wagen und zogen mit traurigen Gefühlen nach Hause.
Mutter bereitete ihm in der sonnigen Veranda auf einer alten Matratze ein Krankenlager. Da lag er nun – wie ein kleines Unglücksbündel.
Am Tag zuvor wollte ein Habicht Hühner klauen und hatte sich dabei im Zaun verfangen. Mutter hatte kein Mitleid mit dem Hühnerdieb. Mit einem Spaten gab sie ihm den Rest. So bezahlte der Vogel seine räuberische Absicht, indem er von Mutter Grete zu einer kräftigen Suppe verarbeitet wurde. Rolf nuckelte davon aus einer Babyflasche. Das tat ihm gut. Nach etwa vier Wochen war er fast so fidel wie zuvor.
Irgendwann normalisierte sich das Leben. Vielleicht hatten wir uns nur daran gewöhnt. Die Russen waren wieder ausgezogen – und wir waren gar nicht froh darüber. Eher kamen wir uns einsam vor, der Geborgenheit beraubt, die wir mit den Soldaten im Haus empfunden hatten. Und das, obwohl die Offiziere Mühe hatten, ihre Truppen in den Griff zu bekommen. Aber Plünderungen, Vergewaltigungen und Schlägereien wurden in dieser Zeit weniger. So hat man es mir später einmal erzählt. Wir Kinder kannten ja nur die Zeit, in der wir lebten. Damals wurde nur weniger darüber gesprochen.
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier«, hatte Mutter immer gesagt. Und als der Krieg vorüber war und wir noch lebten und auch das Haus stehen geblieben war, gewöhnten wir uns an das Leben, wie es nun einmal war.
Das ist euer Vater
Eines Tages kam ein Mann auf unseren Hof. »Hallo Ulli, meine liebe Christel!«, hatte er uns begrüßt, und als er ins Haus ging, folgten wir ihm unsicher in die Küche.
Er kannte sich aus. Wir krochen vorsichtshalber unter den Küchentisch. Wer war der fremde Mann?
»Das ist euer Vater«, klärte Mutter uns auf. Sie weinte und lachte gleichzeitig und umarmte den Mann und er sie und so standen sie lange zusammen.
»Ja, das ist er«, flüsterte Christel. Sie war zwei Jahre älter als ich und konnte sich besser erinnern.
Die Familie war wieder zusammen. Dazu gehörten auch Oma und Opa Krause sowie Oma und Opa Müller, die sich aber nie so richtig um Grete und ihre Kinder im Krieg gekümmert hatten; sie hatten ihre eigenen Sorgen. Margarete sollte sich mit ihren Kindern allein durchbeißen.
Aber nun war Vater ja da. Er war ein fleißiger Mann mit viel Energie, was er auch von uns erwartete. Den Hühnerstall sauber machen, den Garten umgraben und so weiter. »Die Kinder sollen sich nützlich machen«, sagte er.
Vater hatte eine kleine Schlosserei mit einer Schmiede. Vor dem Krieg wollte er sich selbstständig machen: »Schlosserei Werner Krause« – das war sein Traum. Dann aber wurde er eingezogen und bekam eine Grundausbildung darin, wie Menschen erschossen werden. Werner kannte seinen Ausbilder, er war mit ihm zur Schule gegangen und wusste, dass der saudämlich war.
Einmal, als dieser Schinder ihn zehnmal den Sandberg raufgejagt hatte, war Werner sauer geworden und beschimpfte ihn: »Du hast zehntausend Volt im Arm, aber nichts kommt im Kopf an. Noch einmal den Sandberg rauf und ich jage dir mein Messer in den Bauch.« Er hätte es wohl niemals getan. Denn Werner war nie in einer Partei und hasste jede körperliche Gewalt. Zwei Wochen später aber war er in Russland.
Gebe Dummen die Macht oder eine Uniform und das Volk ist verloren.
Nach seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft war Werner nur kurze Zeit ohne Arbeit. Im Gaswerk Eberswalde konnten sie einen ausgebildeten Schlosser gut gebrauchen, und bald übernahm er die Leitung der Schlosserei.
Das Gaswerk war fast zerstört. Alles, was abmontiert werden konnte, war von den Russen nach Russland gebracht worden. Werner war ein exzellenter Handwerker und Erfinder. Oft saß er bis Mitternacht in der guten Stube, zeichnete technische Dinge und grübelte – in Selbstgespräche vertieft – über Lösungen nach, wie unter diesen Umständen bald wieder Gas produziert werden konnte.
Werner machte viele Erneuerungen. In der freier Wirtschaft des Westens, wäre so manche Idee zum Patent geworden und hätte seiner Familie viel Geld eingebracht. In Eberswalde aber wurde Werner stattdessen mit einem Papporden ausgezeichnet und mit einem geringen Geldbetrag bedacht, der ausreichte, den Kollegen ein paar Biere auszugeben, weil sie so nett gratuliert hatten.
Immer am 1. Mai hing an jeder Litfaßsäule in Eberswalde ein Plakat mit dem Bild unseres Vaters. Das mochte er gar nicht, aber Mutter Grete war mächtig stolz auf ihren Mann. Zur Ehrung der Aktivisten und Erneuerer marschierte das ganze Werk zum Marktplatz, wo die Auszeichnung feierlich stattfand. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, verdrückte sich Werner und fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause, um im Garten zu arbeiten.
Prompt kam nach einer halben Stunde ein Polizeiauto und holte Werner ab, um ihn auf der Marktplatzbühne zur Schau zu stellen. Da stand er dann in Arbeitsklamotten und in Holzpantinen, die er für sich selbst und seine Kinder aus Pappelholz gefertigt hatte – der vorbildliche Arbeiterheld.
Da Werner die Schlosserei leitete, sollte er in die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) eintreten. Das gefiel ihm gar nicht. Als der Werksleiter selbst in die Werkstatt kam und Werner ein bereits schon ausgefülltes Parteibuch zur Unterschrift vorlegte, nahm er das Buch und schmiss es ins Schmiedefeuer.
Die vorhersehbare Folge: Werner wurde vor eine Kommission geladen, um sich politisch zu rechtfertigen. Besser gesagt: Um sich zu entschuldigen und sein Fehlverhalten zutiefst zu bereuen. Er kannte alle, die in der Kommission saßen.
Werner gab zu Protokoll: »Ich kenne euch. Alle. Du warst Nazi, du auch und du hast zwei uneheliche Kinder und kümmerst dich nicht um sie. Und Walter, du bist Alkoholiker, musst wohl einiges runterspülen. Ich aber bin viele Male für meine Arbeit ausgezeichnet worden. Was wollt ausgerechnet ihr mir erzählen?«
Er drehte sich um und fuhr nach Hause in seinen geliebten Garten mit seinen Hühnern und Gänsen.
Eberswalde war Kleinstadt, in der jeder den anderen kannte. Wenn Werner im Gaswerk nicht so dringend gebraucht würde, hätte er wohl ein Kämmerchen im Knast bekommen. Die Werksleitung wollte Werner zur Meisterschule schicken – aber ohne Parteibuch? Das ging doch nicht. Werner sagte: »Sowas Brauch ich nicht. Der Ziegenbock ist auch Meister.« Irgendwie ging es dann auch ohne Parteibuch; Gewerkschaftsmitglied zu sein, langte auch.
Die Gasgewinnung aus Steinkohle ergab ein Nebenprodukt: Koks mit Schlacke vermischt. Und wenn die Schlacke heraus sortiert war, blieb der Koks als wertvoller Brennstoff übrig. Wenn ich mir Taschengeld verdienen wollte, kippte Vater Werner einen Hänger voll Schlacken-Koks vor unser Eingangstor ab und ich sortierte am Wochenende den Koks heraus und füllte ihn in Säcke. Die Schlacke musste ich wieder auf den Hänger schaufeln, den Vater dann am Montag mit einem Lanz-Bulldozer zurück ins Gaswerk brachte. Den Koks brachten Christel und ich auf einem Handwagen in die Stadt. Dort kaufte Käse-Hönig den Koks.
Käsehändler Hönig war ein Freund der Familie. Vater Werner kannte ihn gut aus der Schulzeit. Er kannte sich gut mit Lebensmitteln aus. Als ich im dritten Lebensjahr ins Krankenhaus musste, half er dabei, mein Leben zu retten. Es gab damals kaum was zu essen. Heimlich schlich sich Grete dann nachts ins Krankenhaus und brachte mir ein Stück Wurst oder Käse aus Hönigs Laden. Einmal hatte sie solch ein Päckchen einer Krankenschwester anvertraut, doch davon kam nichts bei ihrem kranken kleinen Ulli an.
Mein Opa Krause hatte schon vor dem Krieg in seinem Garten eine große Windmühle gebaut, die Wasser aus acht Meter Tiefe nach oben in einen Tank pumpte. Über ein Leitungssystem wurde sein Garten mit Wasser versorgt. Die Kleingärten waren damals lebenswichtig. Die Eberswalder Zeitungen berichteten darüber ganz groß. Auch darüber, dass der Ururgroßvater Otto Krause nach Amerika ausgewandert war und bei Ford am Fließband als Endkontrolleur sein Kürzel »OK« zeichnete. Dies verbreitete sich als »In Ordnung« in Amerika und in der ganzen Welt.
Ob das wohl stimmte?
Kaum Zeit für die Schule
In den ersten vier Jahren meiner Schulzeit war ich ein recht guter Schüler. Ab der fünften Klasse wurden meine Leistungen schlechter. Selbst in meinen Lieblingsfächern Physik und Mathematik war ich nur noch Durchschnitt – in Russisch, Musik und Deutsch lief es ebenso schlecht. Zu Hause war einfach keine Zeit zum Lernen. Da musste ich Hühner, Gänse, Ziegen und Tauben versorgen und mich um fünfzig Obstbäume kümmern.
Um genug Futter für die Tiere beschaffen zu können, schmiedete Vater Werner in seiner kleinen Werkstatt für die Bauern Pflugschare, Schlösser für Scheunentore und vieles mehr. Bezahlt wurde mit Korn.
Aus Raps wurde Öl gepresst. Korn und Kartoffeln, die noch auf dem Feld weit verbreitet von der Ernte übrig geblieben waren, wurden eingesammelt. Zwei Zentner pro Fahrrad – ein Sack hinten, ein Sack vorne – und dann um zwanzig Kilometer zurück nach Hause.
Der Weg führte über den Mittellandkanal. Manchmal gab es auf der Wassertorbrücke Kontrollen durch die Volkspolizei. Hamstern war verboten – und alles wurde beschlagnahmt. Auch das Team Werner und Ulli wurde mal erwischt. Ein Vopo befahl Werner, die Säcke vom Fahrrad zu schnallen und in einen IFA-Transporter zu legen.
Die Fahrräder standen am Brückengeländer. Werner öffnete die Ledergurte, packte einen Sack nach dem anderen und warf alle von oben – aus zehn Metern Höhe – in den Kanal. Platsch!, machte es und die wertvolle Fracht versank. Die Vopos glotzten blöd aus der Wäsche, verhafteten Werner und verfrachteten ihn ziemlich unsanft in den Transporter, wo eigentlich Korn und Kartoffeln sein sollten.
Ich durfte gehen. Mit zwei Rädern, ohne Vater, Korn und Kartoffeln kam ich nach einer Stunde Fußmarsch zu Hause an. Mutter fragte geschockt: »Wo ist Vater?«
Ich berichtete, was passiert war. Grete war erleichtert: »Ich dachte schon, da ist was Schlimmes passiert.«
Daran, dass Werner ab und zu mal verhaftet wurde, weil er nie seinen Mund halten konnte, hatte sich die Familie gewöhnt. Grete setzte sich aufs Rad und sagte: »Ich bin gleich wieder da. Ich muss in die Stadt zu Herrn Müller von der Werksleitung, der muss Werner helfen.«
Werner bekam eine Verwarnung und musste 50 Mark zahlen, worüber er am meisten sauer war. Die mühevolle Selbstversorgung auf dem Feld und fünfzig Kilometer mit dem Rad – alles umsonst.
Am Montag musste ich nach der Schule in eine Ruine, um Steine von zerbombten Häusern zu klopfen. Wir schlugen den alten Zement von den Trümmerziegeln und luden sie auf einen Handwagen. Werner wollte noch einen Stall mit einer Garage bauen. Jeder, der Mauersteine brauchte, machte es genauso. Nach dem Krieg gab es woanders keine. Da der Handwagen sehr schwer zu ziehen war, wartete ich vor dem Gaswerk, bis Vater Feierabend hatte und mir helfen konnte. Der Lichterfelder Weg war nicht befestigt, sodass die Räder immer wieder im Sand stecken blieben. Pünktlich um 17 Uhr drängten sich die Arbeiter durchs Werkstor. Auch Werner kam pünktlich, er wusste ja: Da wartet Sohn Ulli mit dem Handwagen. Sonst kam er oft Stunden später.
Wir beide zottelten mit dem voll beladenen Handwagen hinter seinen Kollegen her. An der Straßenecke, wo es zur Brücke über den Finow-Kanal ging, gab es eine Kneipe, in die viele hinein gingen.
Ich fragte meinen Vater: »Warum gehen die Männer denn alle da rein?«
Werner: »Die wollen Bier trinken.«
»Und warum du nicht?«
»Nun, dann komm mal mit«, sagte Werner.
Wir stellten den Handwagen an die Seite und gingen in die Kneipe. Ein ohrenbetäubender Lärm, nach Zigaretten stinkender Rauch und schummeriges Licht empfing uns.
Werner bestellte zwei Bier, und ich fühlte mich wie ein Großer. Ich hatte auch ordentlich Durst und nahm einen kräftigen Schluck – um ihn gleich wieder auszuspucken. Bei den Arbeitern gab es ein großes Gelächter.
Werner fragte: »Was ist?«
»Schmeckt scheußlich!«
»Siehste, deshalb gehe ich auch nicht in eine Kneipe.«
Dann ließen wir beide unser Bier stehen und gingen zu unserem Handwagen. Dabei spürte ich eine starke innere Verbundenheit zu meinem Vater. Jetzt konnte ich ihn verstehen. Ich war ein Stück gewachsen.
Zu Hause, auf dem Hof angekommen, freute sich Rolf, bellte laut und zottelte wie verrückt an seiner Kette. Mein Vater war sehr tierlieb. Er strich Rolf über sein rotes Fell, befreite ihn von seiner Kette und sagte: »So, du musst mal richtigen Auslauf haben!«
Rolf raste vor Freude durch das Gemüsebeet und durch das Tor. Keiner hatte daran gedacht, es zu schließen.
Wir riefen: »Rolf, komm zurück.« Aber er kam nicht.
»Der kommt schon wieder, wenn er Hunger hat. Gott sei Dank hat er ja jetzt eine Marke am Halsband.«
Rolf kam nicht wieder nach Hause. Alle waren um Rolf besorgt, besonders ich. Heimlich schlief ich zwei Nächte in Rolfs Hütte, um da zu sein, wenn er wiederkommt.
Nach drei Tagen kam ein Polizist mit der Nachricht, dass mein Freund und Beschützer tot auf einem Trümmergrundstück gefunden wurde. Wir sollten ihn dort wegholen.
Rolf hatte einen russischen Lastwagen, der mit Soldaten beladen war, mit gefletschten Zähnen, bei voller Fahrt angesprungen und wurde dabei schwer verletzt. Er hasste russische Uniformen und Autos. Der Lastwagen stoppte, zwei Soldaten sprangen auf die Straße, nahmen den verwundeten Hund, warfen ihn auf ein Trümmergrundstück und machten seinem Leben mit Steinen ein Ende. So haben es Nachbarn erzählt. Das Schicksal wollte es so.
Es war das Trümmerfeld, von dem ich die vielen Handwagen voller Mauersteine für den Stall zu Hause holte. Mutter, Vater, Schwester und ich holten mit dem Handwagen nun unseren toten Rolf nach Hause. Er wurde im Garten, unter dem Schlafzimmerfenster meiner Eltern – dort, wo immer Tabak für Werner angepflanzt wurde – feierlich beerdigt. Die ganze Familie weinte. Und ich verkroch mich in Rolfs Hütte und dachte über Vaters Worte nach:
»Wer Tiere nicht liebt, der taugt nichts.«
Endlich ein Dach über dem Kopf
Das Leben ging weiter, jeder versuchte, so gut wie möglich durchzukommen. Zu der Zeit konnte noch jeder nach Westberlin fahren. Um an etwas Westgeld zu kommen, wurde geschmuggelt. Mutter Grete war eine Schmuggel-Expertin, sie kannte alle Tricks. Ihre Handelsware waren Eier, Hühner, Enten und Buntmetall, was besonders strafbar war. Nebenbei bügelte Margarete noch Wäsche in einem Westberliner Haushalt.
Vater Werner hatte schon während der Nazizeit alle Buntmetalle, die er im Besitz hatte, hinterm Garten vergraben. Die buddelte er jetzt wieder aus, schnitt sie in Stücke oder bog sie zurecht – und jedes Stück bekam einen Haken. Mutter bekam einen kräftigen Ledergürtel um die Hüfte, an den die Metallstäbe angehängt wurden, immer so um die zwanzig Kilo. Dazu kamen noch zwei Handtaschen mit Eiern und Hühnern oder Enten.
Mit dem ersten Zug gegen fünf Uhr früh ging es über Bernau nach Berlin. Dort gab es Kontrollen. Wer erwischt wurde, musste aussteigen und bei einem Kontrollposten alles abliefern. Manchmal ging es auch in den Knast und man musste Strafe zahlen.
Mutter Grete kam immer mit dem letzten Zug aus Berlin zurück, da sie stets anschließend bei der Familie gebügelt hatte. Es war immer ein Hoffen und Bangen, dass alles gutgegangen ist. Auch auf der Rückfahrt wurde kontrolliert, denn es wurden ja in Westberlin auch gleich wieder lebenswichtige Dinge eingekauft und das war auch Schmuggeln. Es kam vor, dass Mutter Grete mit nichts nach Hause kam.
Manchmal brachte sie aber auch Lachgeschichten von ihrer Schmuggelreise mit: Da kontrollierte ein Volkspolizist eine Oma, die mit zwei Eimern Sand schüchtern in der Ecke am Fenster saß.
»Oma, was hast du da in deinen Eimern und wo willst du damit hin?«
Die Oma sagte: »Ich habe einen Garten. In den Eimern ist Hühnerscheiße und damit es nicht so stinkt, habe ich etwas Sand oben drauf getan.«
Der Vopo machte ein grimmiges Gesicht und herrschte die doch so schüchterne Oma an: »Willst du mich verscheißern?« Der Vopo vermutete Schmuggelware und griff mit der linken Hand bis zum Ellbogen in die stinkende Hühnerscheiße.
Die Oma: »Na, mein Junge, Omas lügen nicht. Ist heute ein Scheißtag, was?«
Das ganze Abteil brach in ein lautes Gelächter aus. Sein Kollege lachte mit. Und die beiden verschwanden auf die Toilette, wo es nie Wasser gab. Die Oma hatte gar keinen Garten, aber in ihrem zweiten Eimer keine Hühnerkacke, sondern Hühnereier.
***
Durch die viele Arbeit im Garten und weil ich meinem Vater in der Schmiede helfen musste, fand ich wenig Zeit zum Lernen. Mein Klassenlehrer kam manchmal zu Besuch und redete mit meiner Mutter, die dann mit mir schimpfte.
Abends um acht Uhr war meistens alles geschafft. Dann kamen noch zwei Stunden Lernen dazu, ich war dann immer übermüdet. Selbst in meinen Lieblingsfächern war ich nur noch Durchschnitt. Am liebsten bastelte ich bei Vater in der Werkstatt.
Einmal hatte ich eine Pistole gebaut, die auch funktionierte. Munition fand ich im Stall unterm Stroh, wo die russischen Soldaten geschlafen hatten. Beim ersten Probeschuss flog das Rohr – das sollte der Lauf sein – auseinander. Ein Nachbar, der gerade im Garten war, hörte den Knall und erzählte es Vater Werner abends, als der nach Hause kam.
»Dein Sohn hat geschossen, ich habe es genau gehört.«
Werner winkte ab: »Blödsinn, womit soll der Junge geschossen haben, wir haben kein Gewehr. Der hat bestimmt wieder mit Karbid gespielt. Du weißt doch: Karbid in eine Dose, Deckel zu, im Boden ein kleines Loch, Streichholz ran – und bumm.«
Zu Hause hörte sich das anders an: »Wo ist Ulli, der ist schon seit zwei Stunden weg, der soll mir mal nach Hause kommen.«
Ich war mit ein paar Kumpels zum Fußballspielen, barfuß und mit einem selbstgebastelten Ball aus alten Lumpen. Eigentlich traute ich mich nicht nach Hause mit meinem kaputten Knie und der zerrissenen Hose. Aber wo sollte ich denn hin? Zu Oma? Die hätte mich auch nur nach Hause geschickt.
Da stand ich nun vor der Tür und wie erwartet, gab es von Mutter eine Tracht Prügel.
Vater ging dazwischen: »Lass den Jungen, ich habe noch mit ihm zu reden. – Was war das für ein Knall am Nachmittag?«
Kleinlaut erzählte ich von meiner Pistole und erwartete ein deftiges Donnerwetter. Schläge gab es bei Vater nie, auch diesmal nicht. Aber ich musste mir eine lange Erklärung anhören, wie gefährlich das war. Ich musste alles herausgeben und der ganze Stall wurde sorgfältig nach Patronen durchsucht. Unterm Heu waren noch etliche Patronen.
***
Es war nicht erlaubt, aber trotzdem schwammen wir gern im Mittellandkanal. Auf Langstrecken waren wir bis zu drei Stunden im Wasser. Mutter bekam es sofort heraus, weil meine Augen so rot waren. Auf dem Kanal waren auch von Schleppern gezogen Holzflöße, auf denen kletterten wir herum, um dann wieder ins Wasser zu springen. Einmal rutschte ich dabei aus und verletzte mich am Schienbein bis auf den Knochen.
Auf dem Weg nach Hause kam ich an einer Apotheke vorbei, wo mein Bein versorgt wurde. »Damit musst du zum Arzt«, mahnte der Apotheker.
Zu Hause gab es erst einmal einen Rüffel: »Wo warst du so lange – und überhaupt, was ist mit deinem Bein und wer hat dich verbunden.«
Ich erzählte von meinem Missgeschick, aber nicht, dass ich in die Poliklinik gehen sollte. Nach zwei Tagen fing es unter dem Verband an zu riechen.
Mutter Grete hatte große Wäsche, die immer in der Werkstatt stattfand. Da gab es einen großen beheizbaren Kessel und einen Waschzuber mit einem Rubbelbrett. Wenn die Wäsche fertig war, wurden wir Kinder mit dem Rest des heißen Wassers von oben bis unten gewaschen. Ich stand nackt in der seifig-rutschigen Brühe und hielt mich an Mutters Schultern fest.
»Mein Gott, was ist denn mit deinem Bein, das stinkt ja schon.« Nachdem Mutter den Verband vorsichtig entfernt hatte, bekam auch ich einen Schreck: Das rohe Fleisch der Hautfetzen – ganz schwarz.
Es ist ja alles wieder verheilt, aber es sollte nicht die letzte Narbe sein. Immer öfter haute ich ab, und hatte sogar eine Höhle, in der ich mich gut verstecken konnte. Manchmal blieb ich sogar über Nacht dort. Dann war zu Hause die Sorge groß. Und wenn Mutter auch erleichtert war, wenn ich wohlbehalten wieder auftauchte, eine Tracht Prügel gab es trotzdem. Es waren wohl die Lust auf Abenteuer und die Gene meines Großvaters Otto Krause. Aber »OK« war eben doch nicht immer »In Ordnung«. Meine Mutter brachte es jedenfalls auf die Palme. Es gab nur noch Streit in der Familie. Zu diesem Zeitpunkt wusste keiner, dass Mutter seit Jahren schwer zuckerkrank war. Ob ihr deshalb so oft »die Hand ausrutschte «? Vater Werner strafte uns stattdessen mit Verachtung – auch das tat sehr weh.
In der sechsten Klasse blieb ich sitzen – und im Konfirmandenunterricht lief es auch nicht. Höchstens, wenn Mutter am Haupteingang aufpasste, ob ich auch zum Unterricht ging. Mutter brachte dem Pfarrer öfter etwas zu essen, Eier und Gemüse, sonst hätte er mich längst rausgeschmissen.
Ich wollte ganz abhauen, fühlte mich einfach nicht mehr wohl zu Hause. Morgens wachte ich mit den ängstlichen Gedanken auf: Habe ich wieder ins Bett gepinkelt? Fällt es auf, dass ich keine Schularbeiten gemacht habe? Was wird Mutter an diesem Tag beschimpfen?
Ich musste weg. Aber wohin? Da kam mir eine Idee: In den Westen gehen! Da ist doch alles besser. Der Gedanke, dass da auch Schularbeiten gemacht werden, kam mir nicht. Nur weg! Ich hatte zwei Kumpel, denen ich mich anvertraute. Die waren von dem Plan, in den Westen abzuhauen, begeistert und wollten mit.
Sofort wurden Pläne geschmiedet. Wir verabredeten, uns nachts in meiner Höhle zu treffen, um noch im Dunklen rauszukommen aus Eberswalde. Richtung Bernau etwa 30 km laufen und dann von dort mit der S-Bahn weiter nach Westberlin. Ich hatte ein Sparschwein, das ich von unten anbohrte, so dass man von oben nicht erkennen konnte, dass es ein Loch gab. Ich fummelte mit einem Draht mein Koksgeld heraus, das eigentlich für ein paar Fußballschuhe gedacht war.
Wir hatten verabredet, uns um 23 Uhr in der Höhle zu treffen. Wie gewohnt ging ich nach oben in mein Zimmer, das über dem meiner Eltern lag, und legte mich angekleidet aufs Bett – nur etwas entspannen, nicht um einzuschlafen.
Als die Zeiger meines Weckers auf 22 Uhr standen, stieg ich vorsichtig aus dem Bett und schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer in den hinteren Trockenboden. Dort hingen Tabakblätter wie Handtücher zum Trocknen auf der Wäscheleine. Es raschelte, wenn ich sie berührte. Bloß keinen Krach machen, sonst wachen die Eltern auf. Ich tastete mich zum Fenster, ein kleines Habseligkeitsbündel und die Schuhe unterm Arm. Vorsichtig öffnete ich das Fenster, das über dem Hühnerstall lag, schlich katzenartig übers Dach und von dort auf den Pflaumenbaum mit seinen zuckersüßen Erinnerungen besonders an die überreif heruntergefallenen Früchte. Mit geübten Griffen erreichte ich den Boden, schlüpfte in die Schuhe und rannte im Dauerlauf zur Höhle. Freund Dieter wartete bereits auf mich.
»Hast du was von Klaus gehört?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Dieter. »Der wird wohl gleich kommen.«
Und schon hörten wir Äste knacken und leise Stimmen. Wieso Stimmen, mit wem redete Klaus?
Dann ging alles ganz schnell. Zwei Männer mit Knüppeln packten mich und Dieter an den Beinen und zerrten uns aus der gut getarnten Höhle. Hart prügelten sie auf uns ein. Ich bekam einen Knüppelschlag übers Gesicht und auf das linke Auge, Blut schoss aus Nase und Lippen. Mit dem getroffenen Auge konnte ich nichts mehr sehen. Ich verstand überhaupt nicht, was da passierte.
Laut schrie einer der Männer: »Euch werden wir helfen! In den Westen abhauen! Verdammtes Packzeug!«
Als ich zur Besinnung kam, war mir schlagartig klar: Klaus hatte uns verraten.
Einer sagte: »Wir bringen sie nach Hause, zuerst zu Krause. Na, der wird sich wundern, wenn er seinen Bengel sieht.«
Vorn am Tor rissen sie so heftig an der Glocke, dass der Draht riss. »Werner Krause, aufmachen!«, grölten sie.
Ich hörte die Stimme meines Vaters von der Haustür zurück rufen: »Was ist los, wer seid ihr?«
»Wir bringen deinen Bengel. Der wollte abhauen – in den Westen.«
»Das kann nicht sein, der schläft oben.«
»Nein Papa«, rief ich weinend, »ich bin hier.«
Vater Werner kam zum Tor und sah mein blutverschmiertes Gesicht. »Was ist passiert mit deinem Gesicht?«
»Die haben mich verprügelt, wir wollten abhauen, aber jemand hat uns verraten. Da kamen die mit dem Knüppel und haben uns verprügelt.«
Mutter Grete war auch aus dem Haus gekommen, mit Hasso an der Leine, unserem neuen Hund. Sie reichte Vater die Leine, nahm mich in die Arme und brachte mich ins Haus.
Werner bückte sich und nahm einen von der Arbeit liegengebliebenen Spaten in die Hände und rief: »Hasso, fass! Ich schlage euch die Schädel ein! Wenn hier einer meinen Sohn schlägt, bin ich das.« Er holte mit dem Spaten aus und ließ ihn niedersausen – er traf nur einen Allerwertesten. Die beiden hatten blitzartig die Flucht angetreten. Nur mit Mühe konnte Werner Hasso zurückhalten.
Eine Anzeige wegen Körperverletzung ging nicht, das wäre auch eine Selbstanzeige wegen Republikflucht gewesen.
Mutter wusch mein Gesicht, während ihr selbst die Tränen übers Gesicht liefen. »Was machst du bloß Junge, ich weiß gar nicht mehr, was ich mit dir machen soll. Was soll denn bloß mal aus dir werden?«
In der Schule traf ich unseren Verräter.
Der jammerte: »Mein Vater hat mich erwischt, als ich aus dem Fenster kletterte. Aus Angst vor Prügel habe ich dann alles erzählt.«
Nach einigen Wochen waren die äußerlichen Wunden verheilt und ich konnte wieder zum Boxtraining gehen, wo auch Klaus trainierte. Nach dem Fitnesstraining durften alle unter strenger Aufsicht drei Runden richtig boxen. Ich fragte den Trainer, ob ich mit Klaus in den Ring steigen darf, weil es ein guter Kumpel von mir wäre. Der Trainer nickte und erinnerte obligatorisch, sportlich und technisch zu boxen. Ich nickte und ließ mir die Handschuhe anziehen.
Die erste Runde war ganz OK. Der Ringrichter mahnte trotzdem: »Ulli, nicht so hitzig, bleib ruhig.«
In der zweiten Runde legte ich richtig los – das war nicht mehr im Sinne des Sports. Ich schlug von allen Seiten auf den Verräter ein, in jedem Faustschlag lag meine ganze Wut, ich drehte völlig durch. Nur mit Mühe konnte der Ringrichter mich bändigen.
Eine dritte Runde gab es nicht, aber ein blaues Auge für Klaus und für mich eine Ringsperre von sechs Monaten. Das war es mir wert.
***
In der Schule hatte ich mich etwas berappelt, lag wieder im Mittelfeld. Besonders in Geografie, Physik und Sport ging es wieder aufwärts. Auch im Fußballverein Aufbau Eberswalde machte ich als rechter Verteidiger eine gute Figur.
Zu Hause war immer viel Arbeit. »Imma abeeten!«, hab ich oft berlinerisch gemeckert. Gänse hüten, wo immer es Gras gab, manchmal auch beim dann fürchterlich schimpfenden Nachbarn, über Land hamstern fahren, im Hühnerstall jeden Morgen die Hühnerkacke wegmachen – und dann im See nach Muscheln tauchen, das war Futter für die Enten. Das machte ich am liebsten, ich war sowieso eine »Wasserratte«. Seit ich zum Geburtstag das Buch »Von China bis Kiel« bekommen hatte, träumte ich von der weiten Welt. Ich war einfach dabei – schipperte mit den Kindern der Geschichte im gläsernen Unterseeboot von Kiel durchs Mittelmeer bis nach Singapur. Das waren wahrlich traumhafte Erlebnisse. Wir trafen Seesterne, Fische, Quallen, und wir sahen viele Länder mit Menschen, die ganz anders als wir aussahen.
Zum Muscheltauchen kam immer meine Schwester mit, das wollte Vater wegen der Sicherheit so. In der Nähe gab es einen großen Teich, wo es viele Muscheln in ein bis zwei Metern Tiefe gab. In zwei bis drei Stunden hatte jeder zwei Eimer voll. Die vollen Eimer stellten wir auf einen altersschwachen Holzsteg, auf dem auch unsere trockenen Sachen lagen.
Beim Anziehen verlor ich das Gleichgewicht, stürzte kopfüber ins Wasser und steckte mit dem Kopf im Morast fest. Christel dachte, ihr Bruder macht mal wieder Blödsinn und zog sich weiter an. Bis sie merkte: der zappelt ja gar nicht mehr.
Nur mit Mühe zog sie mich aus dem Schlamm und brachte mich an Land, wo sie Mund-zu-Mund-Beatmung und alles Notwendige machte. Sie rettete mir bestimmt das Leben.
Zu der Zeit gab es in Westberlin Lebensmittelspenden, die auch Ostdeutsche bekommen konnten. Es war nur schwierig, mit dem CARE-Paket über die Grenze zu gelangen. Vater Werner und ich haben dreimal mit dem Fahrrad von Eberswalde über die grüne Grenze gemacht und wurden einmal von einem russischen Grenzsoldaten erwischt. Das war beinahe Glücksache, denn die deutschen Volkspolizisten waren viel strenger.
Kinder ließen die Russen meistens sogar weiterfahren. Deshalb wurden bessere Lebensmittel wie Fett, Schokolade und Kaffee immer auf die Räder der Kinder geschnürt. Die Fahrt dauerte immer um die fünfzehn Stunden, was für mich schon eine riesige Anstrengung war. Ich wollte einmal meine Eltern überraschen, schwänzte die Schule und fuhr mit meinem Rad Richtung Berlin, um ein CARE-Paket zu holen.
In Bernau hatte ich so um die Hälfte der Strecke geschafft. Da kam ich am Bahnhof vorbei und hatte Hunger. Mein Schmalzbrot und den Apfel hatte ich schon gegessen. Die Bahnhofsgaststätte hatte geöffnet, aber ich hatte nur 20 Pfennig in der Tasche. Das reichte nur für eine Schnecke oder ein Brötchen. Da hatte ich eine Idee. Ich esse eine Suppe, lege meine 20 Pfennig auf den Tisch und tue so, als ob ich nicht mehr hätte. Ich setzte mich an einen Tisch direkt am Eingang. Da kann man besser flüchten, wenn dicke Luft ist.
Eine nette mütterliche Kellnerin fragte: »Was möchtest du mein Junge?«
Ich sah an der Wand eine Tafel mit der Aufschrift »Heute Hühnersuppe, 80 Pfennig« – und mit belegter Stimme sagte ich: »Einmal Hühnersuppe bitte.«
Die Kellnerin schaute mir mütterlich liebevoll ins Gesicht – aber auch etwas nachdenklich. Sie sagte: »Bringe ich dir.«
Schnell verputzte ich die Suppe, statt mit Appetit, eher mit Angst, wie es weitergehen würde. Der letzte Löffel war gegessen, nur noch den kleinen Rest austrinken. Ich hob die Suppentasse an, da klebte die Untertasse fest und fiel mit lautem Knall zurück auf den Tisch. Fast wäre mir das Herz stehen geblieben, alle schauten zu meinem Tisch. Aus war‘s mit heimlichem Verdrücken oder, »Oh, ich habe mein Geld verloren«.
Ich sammelte die Untertasse ein und sah, dass auf der Innenfläche ein Markstück klebte.
Ungläubig schaute ich auf das Geldstück, löste es von der Untertasse und schaute verlegen zur Kellnerin. Mir war, als ob sie lächelte.
Sie kam an meinen Tisch und sagte mit mütterlicher Stimme: »Willst du bezahlen?«
Ich nickte, gab ihr verlegen die Mark und sagte: »Der Rest ist Trinkgeld.«
»Nee, nee, das kommt gar nicht in Frage«, sagte sie und gab mir 20 Pfennig zurück.
Das war selbst für mich fast zu viel, schnell nahm ich meinen Rucksack, sagte höflich »Danke!« und ging zum Ausgang.
Ich hörte noch: »Alles Gute, mein Junge.«
Draußen auf der Straße kam mir alles so unwirklich vor. Spontan fasste ich den Entschluss, umzudrehen und nach Hause zu fahren.
Erst spät am Abend kam ich an und wurde mit einem riesigen Donnerwetter empfangen. Dabei wollte ich doch nur etwas Gutes tun. Vater Werner erklärte mir noch, dass ich als Kind und ohne Ausweis in Westberlin nichts bekommen hätte. Dann ab ins Bett. So eine lange Fahrt – 30 km hin und 30 km zurück – und alles umsonst. Das gab es nicht, zumindest den Rucksack voller Äpfel von den Bäumen an der Straße hatte ich mit nach Hause gebracht.
***
Die Zeit verging und es näherte sich das letzte Schuljahr. Vater Werner suchte für mich eine Lehrstelle, wenn möglich als Autoschlosser. Das war schwierig. So viele Betriebe gab es zu der Zeit in Eberswalde noch nicht und meine Zeugnisse ließen einiges zu wünschen übrig.
Im Osten gab es die Jugendweihe, die mir lieber gewesen wäre, aber das kam für Mutter Grete nicht in Frage. Dank ihrer Hühnereier wurde ich eingesegnet. Ich bekam meinen ersten Anzug und es gab eine große Konfirmationsfeier mit der ganzen Familie. Das war etwas Besonderes.
Selbst bei meiner Schwester, die zwei Jahre zuvor eingesegnet wurde, gab es nur eine kleine Feier, weil es den Familien noch nicht so gut ging. Alle waren gespannt, denn eine Schwester von Margarete, wollte mit ihrem Mann aus dem Westen kommen. So kam es dann auch.
Der angeheiratete Onkel hatte ein Holzbein, das linke Bein hatte er im Krieg gegen die Engländer in Afrika verloren und er arbeitete in Stuttgart bei einer Karosseriebaufirma.
»Da könnte ich für Ulli eine Lehrstelle beschaffen«, erklärte der Onkel meinen Eltern. »Wohnen kann er bei uns. Wir haben Platz genug.« Nach drei Tagen reisten sie wieder ab, mit der Zusage, sich zu kümmern.
Mein Freund Dieter hatte Jugendweihe, zu der ich eingeladen war. Schick herausgeputzt mit meinem neuen Anzug, ging ich zu seiner Feier, auf der ich ein Mädchen kennenlernte.
Zum ersten Mal war ich verliebt. Sie war drei Jahre älter und ich fand sie bildhübsch. Wann immer wir konnten, trafen wir uns, gingen ins Kino oder spazieren. Mutter merkte natürlich bald, dass da ein Mädchen im Spiel war.
Da meine erste Liebe älter als ich war, wollte sie auch mal tanzen gehen. Dazu musste ich natürlich meinen Anzug tragen. Vorsorglich fragte ich meine Mutter um Erlaubnis. Sie stimmte zu, mit der Ermahnung: »Pass aber auf, dass er nicht schmutzig wird.«
Schick holte ich meine Freundin zum Tanzen ab. Der Saal war brechend voll. Auf der Tanzfläche war kaum Platz und ich konnte sowieso nicht tanzen. Dauernd stieß ich mit jemandem zusammen, es war eine Katastrophe.
Meine Freundin hatte bald die Nase voll und wir gingen an die frische Luft. Es war noch hell und wir spazierten, dauernd küssend, in ein Waldstück. Dort lernte ich die Liebe kennen. So nah und so zärtlich.
Das war schön.
Als wir uns an diesem Abend trennten, ahnte keiner von uns, dass wir uns nicht so schnell wiedersehen würden.
Zu Hause angekommen, sah ich, dass die Knie meines Anzugs ganz grün vom Gras im Wald waren. Auch Mutter hatte es gleich bemerkt. Es war das erste Mal, dass sie nicht schimpfte. Lächelnd sagte sie: »Gib mal her, das bekomme ich schon wieder raus.«
***
Nach zwei Wochen kam Post aus Stuttgart mit der Zusage für eine Lehrstelle als Karosseriebauer in Stuttgart. Wohnen konnte ich dann bei der Tante und dem einbeinigen Onkel. Noch am selben Abend wurde mit Mutter und Vater beraten, was man tun sollte. Jedes Detail wurde sorgsam nach Vor- oder Nachteil abgewogen, nicht aber nach dem Herzen.
Vater erklärte: »Hier wird sich nichts ändern. Wenn du keine Lehrstelle bekommst, musst du zum Bauern.«
Diesen Spruch kannte ich schon. Er fiel stets, wenn ich ein schlechtes Zeugnis nach Hause brachte.
Nach Beendigung der Diskussion sagte Vater: »Du musst selbst entscheiden.«
Für mich war das eine schwere Entscheidung, vor der ich mich wieder realer einschätzte: irgendwie war ich doch noch ein Kind. Aber schließlich bekamen die Gene meines Urgroßvater Otto Krause – »OK« – Oberhand, und so sagte ich mit etwas wackeliger Überzeugung: »Ja.«
Für mich stand sowieso fest, dass ich nach der Lehre auf einem Ozeanriesen die Welt erobern würde. So wie Otto Krause es gemacht hatte. Zwar hatte Stuttgart keinen Hafen, doch das war der Westen. Tausendmal besser als ein Bauernhof in der brandenburgischen Schorfheide.
Bloß weg, raus aus Eberswalde!
Der Abschied von meiner ersten Liebe machte mich allerdings traurig, sie war so lieb. Ich versuchte, sie noch einmal zu treffen, aber es klappte nicht. Sie war zur Ausbildung in einem Pionierlager.
Mutter Grete machte sich Gedanken, was ich alles mitnehmen sollte. Nur was wichtig war, denn ich hatte nur einen kleinen Koffer. Hauptsächlich was Warmes zum Anziehen und derbe Schuhe. Mutter und Vater brachten mich mit dem Zug nach Westberlin.
Dampfend und zischend lief mein Zug in den Bahnhof ein. »Alles einsteigen, der Zug nach Stuttgart fährt in zehn Minuten ab!«, tönte es aus dem Lautsprecher. Die Menschen schoben sich in die offenen Türen.
»Du musst einsteigen«, hörte ich meinen Vater sagen, »sonst bekommst du keinen Platz.«
Eine kurze Umarmung, einige Tränen, das war es.
Irgendwie blieb mir die Luft weg. Ich hatte keine Zeit zum Weinen, der Zug war völlig überfüllt, die meisten der Mitreisenden mussten stehen und hatten Rucksäcke auf dem Rücken, was alles noch enger machte. Da war ein Koffer besser, da konnte man drauf sitzen. Ich fand im Gang bei der Toilette, die auch besetzt war, einen Platz. Dort kauerte ich mich auf meinen Koffer und gab den Gedanken an meine erste Liebe hin, von der ich mich unaufhaltsam und ohne Umkehrmöglichkeit entfernte.
Was erwartete mich? Niemand wusste so richtig, wie es im Westen ist, es hieß immer nur: Da ist es besser.
Der Zug ratterte und schaukelte über die notdürftig zusammengeflickten Schienen. Direkt vor meinen Augen stand ein Mädchen, das wie ich den Tränen nahe war. Sie hatte Mühe zu stehen und ihr Gleichgewicht zu halten. Sie schaute von oben auf mich herab, während ich versuchte, ihrem Blick auszuweichen, was nicht immer gelang. Meinen Platz mit Koffer wollte ich ihr jedenfalls nicht überlassen.
Nach einigem Zögern gab ich ihr ein Zeichen, sie könne sich auf meine Knie setzen, was sie auch mit ein wenig Scham sofort tat. Auf jeden Fall war sie kein leichtes Mädchen. Mein Koffer quetschte sich um die Hälfte zusammen. Nach einer Stunde hatte ich keine Gefühle mehr in den Beinen. Wie werde ich die bloß wieder los, dachte ich und fand sogleich, dass sie irgendwie auch komisch roch. Ich hatte sozusagen Schnauze und Nase gestrichen voll.
Weil es sowieso mal sein musste, streckte ich meine Beine aus. Sie plumpste auf den schmutzigen Boden und brachte damit noch zwei weitere Rucksack-beladene Tanten ins Wanken. Laut auf sächsisch schimpfend, versuchten sie wieder Halt zu bekommen. Jetzt tauschte ich mit dem Mädchen jede Stunde den Platz auf meinem Koffer – ojeh, was der so alles gesehen und gehört hatte.
In Stuttgart angekommen, hielt ich Ausschau nach meiner neuen Verwandtschaft. Da standen sie. Die Tante erinnerte mich mit ihren roten Haaren an meinen Hund Rolf. Daneben der Onkel, diesmal ohne Holzbein, aber mit zwei Krücken und einem künstlichen Lächeln. Nach kurzer und herzloser Begrüßung beiderseitig ging es mit Bus und Bahn nach Vaihingen, in eine Kleinstadtkolonie, wo das ihr tolles Haus stehen sollte.
Es war eine Holzhütte mit einer Wohnküche und einem Schlafzimmer. Mein Schlafplatz war ein Sofa in der Küche. Mein etwas zerquetschter Koffer passte gut darunter. Eine Toilette gab es draußen neben der Hütte, gewaschen wurde sich in der Küche.
All das war nach dem Krieg eben so. Aber mussten sie denn in Eberswalde so angeben, als ob sie in einer Villa wohnten? So etwas kannte ich nicht. Mutter hatte immer gesagt: Schwindeln hat kurze Beine.
Aber wie sollte ich mit diesen kurzen Beinen den langen Weg wieder nach Hause schaffen?
***
Irgendwie hatte ich ein Gespür dafür, auch aus verfahrenen Situationen das Beste zu machen – selbst wenn ich bei schlechtem Wetter draußen unter einem Baum schlafen musste. Niemals war ich Mutter oder Vater für irgendwas nachtragend, allenfalls mal etwas traurig.
Auf dem Sofa konnte ich ganz gut schlafen. Nur nicht, wenn die beiden sich im Nebenzimmer derart liebten, dass das eiserne Bettgestell rhythmisch an die Küchenwand krachte. Das fand ich nicht nur zum Kotzen, ich wurde dabei auch die Frage nicht los, ob der Onkel mit oder ohne Holzbein bei der Sache war. Ich fand beides sehr komisch und auch ekelhaft, denn es hinderte mich daran, mit romantischen Gedanken an meine erste Liebe einzuschlafen.
Die nächtliche Unbeherrschtheit meines Onkels setzte sich am Tage fort. Wenn er sauer war, schlug er unverhofft mit einer Krücken zu.
Aber ich hatte im Eberswalder Boxtraining gelernt, blitzschnell auszuweichen. Bis auf einmal, da zuckte meine Hand reflexartig zur Krücke – und prompt flog der Onkel mit dem Hintern in die Regentonne. Ich half ihm wieder auf die ... nein, auf das eine Bein. Und ich reichte ihm nicht die Hand, sondern seine Krücken, die davongeflogen waren.
Nach vier Wochen konnte ich in der Karosseriebaufirma anfangen zu arbeiten. Als Hilfsarbeiter. Der Lehrvertrag sollte später gemacht werden.
Der Onkel hatte mir ein Fahrrad gekauft, damit ichauf jeden Fall morgens pünktlich zur Arbeit kam. Das war kein Geschenk, denn bis auf ein kleines Taschengeld musste ich meinen Verdienst abgeben. Für Unterkunft, Verpflegung und Fahrrad.
Meine Arbeit bestand darin, beim Nieten oder beim Punktschweißen zu helfen, die Gänge zu fegen und sonstwie sauber zu machen.
Obwohl ich bei den Kollegen gut ankam, weil ich vieles schon zu Hause in Vaters kleiner Schmiede gelernt hatte, sprach niemand von einem Lehrvertrag. Auch der Onkel nicht. So langsam begriff ich, dass der Einbeinige mich nur zum eigenen Geldverdienen in den goldenen Westen geholt hatte. Die beiden hatten Mutter und Vater nach Strich und Faden belogen. So wie es keine Villa gab, so gab es auch keine Lehre.
Da ich nie einen Brief schrieb, wussten meine Eltern auch nichts davon. Immer mehr war mir klar, dass ich da nicht bleiben wollte.
Aber was machen?
Wieder zurück nach Eberswalde?
Einfach aufgeben kam nicht in Frage. Immerhin war ich im Westen. Es galt, eine Alternative zu Tante und Holzbein-Onkel zu finden.
Der Bodensee ist nicht der Ozean
Einmal war meine Tante Dora aus Frankfurt am Main mit ihrem Mann in Eberswalde. Sie waren mit einem dicken Amischlitten angereist, der auf dem Hof bei Oma parkte. Am nächsten Morgen waren alle vier Räder abmontiert und geklaut. Nach drei Tagen kam ein LKW und brachte neue. Tante Doras Mann war Schweizer, hatte ein Transportunternehmen und fuhr für die Amerikaner die beliebten CARE-Pakete in ganz Westdeutschland aus. Der war steinreich, sein Hauptsitz sollte in St. Gallen in der Schweiz sein.
Der war doch damals so nett, erinnerte ich mich. Langsam reifte der Gedanke: Ich haue ab – in die Schweiz. Die Firma Kellenberg – so hieß der Onkel – musste doch zu finden sein! Damals wurden die Löhne im Betrieb bar ausgezahlt, und mit meinem nächsten Lohn wollte ich abhauen. Das war nicht so einfach, wie es sich anhört, denn der Einbeinige kassierte mich bereits am Werkstor ab.
Deshalb ging ich am Zahltag zu meinem Vorarbeiter und fragte, ob ich eine Stunde früher gehen darf.
»Ich muss meine Mutter vom Bahnhof abholen«, schwindelte ich und fragte, ob die Zahlstelle am heutigen Lohntag wohl schon geöffnet habe.
Der Vorarbeiter nickte: »Ich sage Bescheid, es geht ja schließlich um deine Mutter.«
Die Schwaben sind familienfreundliche Leute, und dass eine Notlüge erlaubt ist, meine ich sogar im Religionsunterricht gelernt zu haben.
Ich holte meinen Lohn und fuhr mit dem inzwischen bezahlten Fahrrad Richtung Bodensee. Eine Landkarte hatte ich schon vor Tagen an einer Tankstelle gekauft. Die Entfernung bis zum Bodensee war für mich mit dem Rad kein Problem. In zwei Tagen würde ich dort sein.
Mein Ziel war Konstanz, da war auch gleich die Grenze. Zweimal hatte ich in einer Scheune geschlafen, und so kam ich gut ausgeruht dort an.
Schilder wiesen den Weg zur Grenze. Ich stieg vom Rad und näherte mich vorsichtig Richtung Schlagbaum, suchte mit den Augen eine Möglichkeit, diesen zu umgehen, fand aber keine. Die Beamten mit ihren hohen Käppis hielten jedes Auto an. Wer zu Fuß über die Grenze ging, musste den Ausweis vorzeigen. Ich hatte keinen.
Da war guter Rat teuer: Wie komme ich da rüber?
Ich trat erst einmal den Rückzug an und kam am Hafen vorbei, stellte das Rad an einen Baum und setzte mich auf eine Bank, um den Booten und Schiffen zuzusehen. Ein großes Schiff mit einer schwarzen Rauchfahne über dem Schornstein schob sich über den See und weckte erneut meine Sehnsucht, zur See zu fahren. Rund um die weite Welt.
Mein Magen meldete sich, und ich kaufte mir eine Semmel mit einer Scheibe Leberkäse. Neben dem Imbiss stand eine Holzbude mit einem Schild an der Tür: »Ruderboote zu vermieten, Stunde 0,50 DM«. Nachdem der Leberkäse gegessen war und ich die naheliegende Schweiz im Blick und die Entfernung der Grenze hatte, kam mir eine Idee ...
»Für zwei Stunden«, sagte ich zum Bootsvermieter, der mir nett erlaubte, mein Rad bei seiner Bude abzustellen. Das Boot war aus Holz und nicht ganz dicht. Immer wieder musste ich mit einer Blechdose Wasser schöpfen, um nicht nasse Füße zu bekommen.
In Eberswalde hatte ich mir einmal aus einem abgeworfenen Flugzeugreservetank einen Kahn gebaut, dadurch hatte ich genügend Erfahrung für meine Seefahrt. Mit kräftigen Ruderschlägen ging es in Richtung Schweiz.
Niemand hielt mich auf, als das Boot im dicken Schilf an Land auflief. Mit einem Seil band ich den Kahn an einen Ast, zog die Schuhe aus und watete durch das kniehohe Wasser an Land auf eine Wiese. Die Sonne schien, die Bauern waren bei der Heuernte und ich war mit mir zufrieden. Dass der Verleiher seinen Kahn selbst zurückholen musste, machte mir kein schlechtes Gewissen. Der hatte ja das Fahrrad, das war viel mehr wert als eine Stunde rudern.
Der Weg zu Fuß nach St. Gallen führte durch ein Dorf, wo es einige kleine Läden gab. Das Schaufenster vom Bäcker war gefüllt mit Brot, Kuchen und viel Schokolade. Da musste ich stehen bleiben, so etwas Tolles hatte ich noch nie gesehen.
Und noch etwas sah ich als Spiegelbild im Schaufenster: Ein Polizist mit einem hohen Käppi stand hinter mir.
»Kann ich mal Ihre Papiere sehen?«, forderte er.
Wegrennen hatte keinen Sinn, der hatte ein Fahrrad, so ein Mist. Ich fummelte meinen Betriebsausweis vom Karosseriewerk aus der Hosentasche und erzählte von meinem Schweizer Onkel.
Der Polizist war nicht besonders beeindruckt. »Ja, die Deutschen wollen alle einen reichen Schweizer Onkel haben. Jetzt komm erst mal mit zur Wache.«
Auf der Polizeiwache wurde ich verhört und ich musste ein Protokoll unterschreiben. Da ich ein ehrlicher Dieb war, berichtete ich auch, wie ich über die Grenze gekommen war.
Das ließ den Polizisten schmunzeln: »Morgen bringen wir dich zur Grenze, dann können sich die Deutschen um dich kümmern.«
Ein anderer Polizist kam mit einem großen Schlüsselbund. »So, jetzt schlaf dich erst mal aus«, sagte er, als er mich in eine Zelle sperrte.
Ich nickte kleinlaut und sagte: »Ich habe aber Hunger.«
»In einer Stunde bekommst du was und morgen bringen wir dich zur Grenze.«
Immerhin: Das Essen war besser als Wasser und Brot.
Am anderen Morgen ging es zur Grenze, an dem Schlagbaum vorbei, vor dem ich schon auf der anderen Seite gestanden hatte. Da war schon alles organisiert.
Eine typische Sozialfrau von der Jugendbehörde – strenge Knotenfrisur, schmalen Lippen, keine Titten – nahm mich in Empfang und war bei der Vernehmung dabei.
»Du hast Glück, der Bootsverleih erstattet keine Anzeige.«
Der sagte: »Man kann sich ja mal verfahren.« Aber wo mein Fahrrad war, das wusste er komischerweise nicht. So ist das Leben, ein Geben und Nehmen.
Die strenge Fürsorgerin brachte mich in ein Heim, wo ich freundlich aufgenommen wurde. Ich bekam ein tolles Einzelzimmer mit weißem Bettzeug und einer Waschecke mit Seife und Handtücher. Beim gemeinsamen Abendessen stellten die Heimleiter sich und das Haus vor. Es war ein kleines Jugendheim mit zwölf Zimmern, finanziert von einem großzügigen Unternehmer.
Die Heimleitung nahm Kontakt zu meinem einbeinigen Onkel auf, der mich abholen sollte. Zurück in die Holzbaracke mit dem Schlafsofa in der Wohnküche? Schon der Gedanke daran machte, dass mir schlecht wurde.
Und ich beschloss: Heute Nacht haue ich ab! Mein Problem: Wie komme ich an meine Sachen, die ich dringend brauche? Am besten ging das, wenn Onkel und Tante auf ihrer Arbeit waren.
Am frühen Morgen fuhr ich per Anhalter zurück nach Stuttgart und ging von dort zu Fuß nach Vaihingen. Vorsichtig schlich ich durch den Kleingartenverein und näherte mich meinem ungeliebten Arbeits-Zuhause. Da vor der Hütte keine Fahrräder standen, wusste ich, dass niemand im Haus war. Vorsichtshalber ließ ich das Gartentor auf, um schneller flüchten zu können.
Ich klopfte an die Tür – es war wirklich keiner da.
Aber wie reinkommen? Ich hatte den Schlüssel so weggeworfen, wie man alle Brücken hinter sich abbricht. Da fiel mir das Küchenfenster ein, das immer auf Kipp stand, weil es sonst drinnen gleich muffig roch. Tatsache, es stand sogar etwas auf.
Rasch kletterte ich durchs Fenster und schaute unters Sofa in der Küche. Der Koffer mit meinen Habseligkeiten war noch da. Ich kippte den gesamten Inhalt aus und suchte hastig heraus, was ich brauchte, und stopfte es in meinen Rucksack. Alles andere ließ ich stehen und liegen, kletterte wieder nach draußen, machte das Gartentor zu und wanderte in Richtung Autobahn. Die zerknitterte Landkarte half mir dabei.
Kurs Nord nach Hamburg
Mein Ziel war jetzt Hamburg. Das Schiff auf dem Bodensee hatte mir einen Schicksalswink gegeben. Jetzt lockte die weite Welt. Also nordwärts in Richtung meiner Träume, per Anhalter und zu Fuß.
Unterwegs traf ich einen Landstreicher, der über eine längere Strecke den gleichen Weg hatte. Von ihm konnte ich viel Nützliches lernen. Am wichtigsten war, wo und wie bekomme ich Essen und Trinken.
Ein bis zwei Tage beim Bauern helfen oder einfach fragen: »Habt ihr für mich etwas zu essen?«
Manchmal hilft auch, ein Huhn zu klauen.
Rezept: Man drehe dem Huhn schnell den Hals um, damit es nicht gackernd und krähend den Bauer alarmiert, und dann nix wie weg! Abends beschmiert man das Huhn mitsamt der Federn mit einer dicken Lehmschicht und legt es für eine Stunde ins Lagerfeuer. Beim Aufbrechen der Lehmkruste hat man nur das blanke Fleisch, da die Federn am Lehm hängen bleiben.
Der Landstreicher wollte nach Frankfurt am Main. Das brachte mich auf die Idee, meine Tante Dora zu besuchen. Dorchen wurde sie genannt, und sie war mit dem reichen Schweizer verheiratet, zu dem mich die Schweizer Polizisten nicht gehen lassen wollten. Ich erinnerte mich an die Adresse – Hinter den Ulmen oder so ähnlich.
In Frankfurt am Hauptbahnhof verabschiedete ich mich von dem Landstreicher. Einen Moment überlegte ich, für zwei Mark ins Bahnhofs-Kino zu gehen. Dann aber kaufte ich lieber zwei trockene Brötchen, ging in eine Telefonzelle, und fand tatsächlich die Adresse von Tante Dorchen.
Zufrieden mit mir, belohnte ich mich nun doch mit dem Besuch des durchgehend vorführenden Kinos und setzte mich in die letzte Reihe. In Ruhe verdrückte ich ein Brötchen und schlief ein, um wohl nach zwei Stunden ausgeruht wieder in der Wirklichkeit zu sein.
Auf einem Stadtplan sah ich, dass »Hinter den Ulmen« in Frankfurt-Eschersheim war. Das war ein langer Marsch mit vielen Nachfragen, doch das klappte besonders auf dem Lande recht gut. Und schließlich stand ich vor dem Straßenschild »Hinter den Ulmen«. An der Haustür von Nummer elf stand der Name Kellenberg.
Mit klopfendem Herzen drückte ich auf den Klingelknopf – so fest, dass der Knopf stecken blieb und es im Haus Alarm im Dauerton schellte.
»Ich komme ja schon!«, rief eine Stimme. Die Tür öffnete sich und Tante Dora – im Bademantel und mit verdutztem Gesicht – fragte: »Bist du das, Ulli?«
Dann drehte sie sich um und ließ mich vor der offenen Tür stehen, um gleich mit einer Nagelfeile in der Hand zurück zu kommen.
»Das Ding klemmt dauernd.« Nachdem sie den Klingelknopf rausgefummelt hatte, bat sie mich ins Haus. »Nun setz dich erstmal hin, wo kommst du denn her und wie siehst du überhaupt aus?«
Ich erzählte ihr mein Schicksal und dass ich nach Hamburg will, um dort auf einem Schiff zur See zu fahren.
Sie nickte nur kurz und ordnete resolut an: »Jetzt gehst du erst mal in die Badewanne. Und dann mache ich was zu essen. Ich lasse schon mal Wasser ein.«
Ich mochte mich kaum bewegen – es war alles so anders. Lauter dicke Sessel, so viele Zimmer, und dann erst die große Badewanne! Ich ging ins Bad, schloss die Tür, zog mich aus und stieg in das warme, duftende Wasser.
Nach einer Weile kam Tante Dorchen ohne anzuklopfen ins Badezimmer, was für mich eigentlich kein Problem war. Aber für meine Unterwäsche schämte ich mich. Die hatte ich vor einigen Tagen an einem kleinen Bach mit einem kleinen Stück Handseife gewaschen. Genau diese Unterwäsche nahm die Tante mit spitzen Fingern, steckte sie in einen Müllbeutel und verschwand wieder. Das war mir sehr peinlich. Tante Dorchen war eine gepflegte Frau, und so auch der gesamte Haushalt. Die Tür ging wieder auf und sie brachte frische Unterwäsche, die mir zwar viel zu groß war, aber das konnte ich zurechtkrempeln, Hauptsache frisch und sauber.
»So, jetzt wird erstmal was gegessen, es gibt Rühreier mit Speck, und dann erzählst du mir das alles mal der Reihe nach.«
Tante Dora war ein guter Mensch mit viel Herz, aber mit mir konnte sie nicht so richtig was anfangen. Eigene Kinder hatte sie nicht und was Gutes über mich hatte sie wohl auch noch nicht gehört.
»Wo willst du denn jetzt hin?«, fragte sie.
»Ich will nach Hamburg. Auf ein Schiff. Zur See fahren«, wiederholte ich.
Sie schaute mich etwas mitleidig an, wobei ich das Gefühl hatte, dass sie überlegte, wie sie mich schnell wieder loswerden kann. »Dieser Ulli« hatte keinen guten Ruf in der Verwandtschaft. In der Schule nicht so toll, und immer haute er ab.
Ich spürte, dass ich nicht willkommen war und sagte: »In einer Stunde muss ich weiter, ich bin verabredet mit einem Kumpel. Der kennt eine Spedition, da nimmt uns ein LKW mit bis Hannover.«
Das war geschwindelt, aber ich wollte der Tante nicht zur Last fallen. Sie hatte ja schon viel für mich getan. In sauberer Unterwäsche und mit 50 Mark mehr in der Tasche marschierte ich in Richtung Autobahn. Fast fühlte ich mich reich. Und ich überlegte, ob es Mitleid oder ein schlechtes Gewissen war, das die Tante so großzügig machte.
Auf meiner Landkarte fand ich eine Autobahn-Tankstelle mit großem Parkplatz. Der kürzeste Weg dorthin führte über Wiesen und Felder. Von dort sollte es weiter nach Norden gehen. Am besten war immer ein Lastwagen. Die Fahrer hatten es gern, wenn sie jemanden zum Reden auf ihrem langen Weg hatten.
Die Abkürzung war beschwerlicher als gedacht. Nach einigen Kilometern durch Matsch, war ein Bach im Weg, mindestens drei Meter breit. Mist, dachte ich, aber ich wusste, dass ich drei Meter weit springen kann – so war ich in Eberswalde über manche Bäche gekommen – aber manchmal ging es auch schief. Ich schleuderte zuerst den Rucksack auf die andere Seite, nahm dann einen ordentlich Anlauf und sprang direkt nach drüben in die Böschung – und stand bis zu den Knien im Wasser. Mir war klar: So nimmt mich keiner mit.
An der Tankstelle schnappte ich mir den Wassereimer, der für die Reinigung der Autoscheiben gedacht war. Damit reinigte ich meine Schuhe. Das gab Ärger mit den Autofahrern. Ich flüchtete in die Toilette. Zum Glück hatte ich noch eine zerknitterte Reservehose im Rucksack. Hauptsache trocken. Ich wusch noch die nasse Hose im Waschbecken aus und verstaute sie im Rucksack. Dann gönnte ich mir dank Tante Dora in der Raststätte Kartoffelsalat mit Bockwurst und suchte mir dort einen Platz, wo die Fernfahrer saßen. Das konnte man an der Kleidung erkennen.
Ich hatte Glück und fand einen, der mich auf einen Rutsch bis nach Hamburg mitnahm. Sein Lastzug war ein alter Hanomag mit Hänger, der die Steigungen oft nur mühselig im ersten Gang rauf kam. Der Fahrer erzählte von seiner Familie, seinen Kindern, von denen eins nicht vom ihm war, das Kind war etwas bunt geraten. Seine Frau sagte, sie sei vergewaltigt worden. Egal, er liebte es genauso wie die anderen. Sein Bruder wurde von den Nazis erschossen – wahrscheinlich Verrat, weil er in der Kommunistischen Partei war, meinte der Fahrer. Nie hatte er gefragt, was ich in Hamburg wollte.
Morgens gegen fünf Uhr hielt der LKW vor der Zollschranke am Hamburger Hafen und ich musste aussteigen. Noch ein Dankeschön und ich stand draußen in der dunklen und kalten Nacht. Ich war also in Hamburg am Hafen und brauchte jetzt nur noch ein Schiff, das mich ab in die weite Welt bringt.
Mit phantasievollen Erwartungen marschierte ich durch Hamburg. In den Zollhafen traute ich mich nicht, ich hatte ja keine Papiere und ohne klappt nichts.
Der LKW-Fahrer hatte mir den Tipp gegeben, in Richtung Landungsbrücken zu gehen. Das hörte sich gut an, da legen bestimmt die dicken Pötte an. Ich bummelte durch die Stadt. Es gab immer noch viele zerbombte Häuser. Hamburg war ja durch die Bombenangriffe fast völlig zerstört worden.
An den Landungsbrücken angekommen, sah ich die Ozeanriesen an den Dalben liegen. Daneben ein Riesenmonster mit Rüssel. »Na, mein Junge, da staunste, das sind Getreideheber. Die saugen das Getreide aus dem Rumpf der Schiffe in die Schuten und bringen es zu den Mühlen.«
Nachdem der nette Mann mit der weißen Mütze alles erklärt hatte, fragte er: »Und, wo kommst du her?«
»Ich möchte zur See fahren, wie komme ich da rüber auf ein Schiff, um zu fragen, ob die mich gebrauchen können?«
Der Mann lachte. »So geht das nicht, so einfach ist das nicht. Du brauchst ein Seefahrtsbuch und ein Gesundheitszeugnis und wenn du keine 18 Jahre alt bist, müssen deine Eltern eine schriftliche Erlaubnis geben. Wenn du das alles hast, kannst du zur Heuerstelle gehen. Da werden die Seeleute an die Reedereien vermittelt. Und wenn sie dich gebrauchen können, kommst du auf ein Schiff. Guck mal, da oben, das große Haus, das ist das Seemannsheim. Unten drin ist die Heuerstelle. Ich war viele Jahre bei der Fischerei, auch schon vor dem Krieg. Das war harte Arbeit im Nordatlantik, immer eiskalt und oft schwere Stürme. Viele sind über Bord gegangen und ersoffen. Seefahrt tut not, sagt man immer.«
»Warum ›tut not‹?«, fragte ich.
»Naja, Fische für die Ernährung und weltweiter Handel für alles andere, was der Mensch so braucht«, sagte der alte Seebär. »Geh mal nach Hause und besprich das mit deinen Eltern.«
Diese nette Beratung war niederschmetternd für mich. Ein Zuhause hatte ich nicht und meine Eltern waren weit weg im Osten und wussten gar nicht, dass ich in Hamburg war. Ein Brief war oft Wochen unterwegs und welche Adresse sollte ich denn angeben, um Antwort zu erhalten?
An den Landungsbrücken stand eine Würstchenbude. Ich kaufte eine Pferdewurst mit Brot und Senf und überlegte, wo ich schlafen konnte. Ein Hotel war viel zu teuer. In der Stadt gab es keine Scheunen und kaum Wald. An einer Litfaßsäule mit der Reklame einer großen amerikanischen Zigarettenmarke, machte ich eine Pause. Müde lehnte ich mich mit dem Rücken dagegen, den Rucksack zwischen den Beinen. So nickte ich mit den Gedanken an meinen Vater ein. Der hatte mir immer gesagt: »Wenn du richtig müde bist, kannst du auch im Stehen schlafen, und mit richtigem Hunger kannst du aus trockenem Brot Honig saugen.«
Ich schreckte auf, als irgendwas an meinem Ärmel zupfte. »Hallo mein Junge, wach auf, du kannst hier nicht im Stehen schlafen.«
Schlagartig war ich hellwach und schaute in ein gutmütiges Gesicht. Leider hatte das gutmütige Gesicht eine Uniform an, die bei mir schon als Kind Unbehagen auslöste.
»Zeig mir mal deinen Ausweis«, sagte der Polizist.
»Ich habe keinen, der ist mir verloren gegangen«, schwindelte ich.
»Na, dann komm mal mit zur Wache. Vergiss deinen Rucksack nicht.« Er schob sein Fahrrad und ich lief nebenher zur Wache. In dem Augenblick war mir alles egal, ich war niedergeschlagen und wollte nicht hinnehmen, dass wieder der ganze Weg umsonst gewesen sein sollte.
Auf der Wache wurde wieder mal mit einer laut klickenden Schreibmaschine ein Protokoll aufgenommen. Woher, wohin, wo wohnst du?
Das monotone Klicken ließ meine Augen immer wieder zufallen, was den Beamten zur Verzweiflung brachte und er schließlich das Verhör mit den Worten abbrach: »So hat das keinen Sinn, der muss erst mal ausschlafen, dann kann die Frühschicht weitermachen.«
Immerhin: Die Zelle hatte eine Pritsche, auf der zwei Decken und ein Kopfkissen lagen. »So, jetzt schlaf dich erstmal richtig aus, ich lasse die Tür offen«, sagte der Schutzmann und machte eine blecherne Brotdose auf, um ein mit Wurst belegtes Brot auf einen kleinen Tisch am vergitterten Fenster zu legen.
Selig, ein warmes Bett zu haben, zog ich meine schmutzigen Klamotten bis aufs Unterzeug aus, krabbelte unter die Decke und schlief sofort ein.
Am anderen Morgen wurde ich mit einem Marmeladenbrot und einer Tasse Kaffee geweckt. Ich beantwortete alle Fragen zum Protokoll wahrheitsgemäß. Was folgte, kannte ich ja schon, ich wurde vom Jugendamt in ein Heim gebracht.
Der Heimleiter nahm sich viel Zeit für mich und hatte auch viel Verständnis. Er wollte sich darum kümmern, dass ich zur See fahren kann. Aber schließlich erklärte er mir: »Ich kann leider auch nichts machen. Du musst wieder nach Stuttgart, wo du gemeldet bist. Aber da kannst du in ein Heim kommen, wo du alles regeln kannst, was notwendig ist, um zur See fahren zu können. Die Heimleitung wird dich dabei unterstützen.«
Drei Tage später saß ich im Zug nach Stuttgart, – voller Zuversicht, diese Strecke bald wieder Richtung Hamburg zu fahren.
Am Stuttgarter Hauptbahnhof wurde ich abgeholt und in ein Auffanglager gebracht, wo ich eine Vernehmung durch einen amerikanischen Offizier und zwei Deutsche über mich ergehen lassen musste. Es schien mir so, als ob sie dachten, der kleine Ulli sei ein Spion.
Aber dann wurde ich einquartiert.
»Willkommen in der Landwirtschaft«
Nach wenigen langweiligen Wochen im Heim konnte ich wählen: Entweder zurück zum Holzbein oder als Knecht auf einen Gutshof von Schloss Stetten. Schloss hörte sich zwar gut an, aber Schiffe gab es da wohl nicht.
Es blieb also das Übliche: Jugendliche ohne Zuhause wurden zur Arbeit auf einem Bauernhof vermittelt. Da gab es jedenfalls etwas zu essen und einen Schlafplatz.
Am Nachmittag fuhr ein Mercedes-Vorkriegsmodell vor; ich wurde abgeholt. Auf der dreistündigen Fahrt stellte sich der Fahrer als Verwalter des Gutshofes vor, hatte eine Menge Fragen an mich und erzählte viel von der Arbeit auf dem Hof.
Eine lange Allee ging schnurgerade auf Schloss Stetten zu. Der Gutshof mit seinen imposanten Gebäuden lag direkt vor dem Schloss. Im Keller des Haupthauses war mein Zimmer mit Toilette und Dusche. Es war sehr gemütlich eingerichtet und zur Begrüßung standen belegte Brote und eine Kanne Tee auf dem Tisch.
Der Verwalter zeigte mir jeden Schrank und jede Schublade, wo mein Arbeitszeug war und wo ein Paar Gummistiefel stand, in die ich noch hineinwachsen musste.
»Wecken um fünf Uhr früh«, sagte er und ließ mich in Ruhe.
Die wenigen Sachen aus seinem Rucksack waren schnell ausgepackt und mussten gewaschen werden. Nach einem heißen Bad ging ich schlafen.
Schon um drei Uhr war ich hellwach. Alles neu, mal sehen, was da kommt. Ich hatte es nie schwer, mich neuen Situation anzupassen, aber genauso schnell konnte ich auch wieder woanders mein Glück suchen.
Punkt fünf Uhr stand ich angezogen vor der Tür, wo noch ein Knecht und eine füllige Magd auf den Verwalter warteten. Der kam auch gleich.
»Das ist Ulli, der wird uns helfen«, stellte er mich vor und verteilte die Arbeit.
Ich half, den Kuhstall auszumisten, die anderen fütterten die Pferde. Um acht Uhr gingen wir zum Frühstück, das gemeinsam mit der Pächterfamilie an einem langen Tisch eingenommen wurde. Alle waren sehr nett und wollten viel von mir wissen. Woher ich komme und wie es im Osten aussieht, ob die Menschen dort genug zu essen haben. Besonders die beiden Töchter stellten Fragen über die DDR und mein Zuhause.
Es war nicht meine Art, schlecht über meine Heimat zu reden, bisher war es mir auch in der BRD nicht besser gegangen, aber ich war zufrieden. Es ist so wie es ist, man muss ja nicht alles sagen, was man denkt.
Die nötige Arbeit wurde ausgiebig besprochen; ich musste vor allem dem Verwalter zur Hand gehen. Bald konnte ich schon vieles ohne Aufsicht machen – am liebsten mit dem Lanz-Bulldozer, denn den konnte ich schon als kleiner Junge in Eberswalde fahren, wenn Vater Werner vom Gaswerk Schlacke zum Sortieren nach Hause brachte. Einmal bis zum Bahndamm, umdrehen und zurück. Das war immer ein tolles Erlebnis, auch wenn die Kupplung so schwergängig war, dass ich sie nur mit beiden Beinen drücken.
Heimlich hatte ich mich in eine der Töchter verknallt, aber Knecht und Tochter vom Pächter – das ging ja wohl gar nicht, außerdem war sie bestimmt schon über zwanzig. Bei der molligen Magd war das anders. Die mochte mich und zeigte es mir auch: »Na Ulli, hast du Lust, am Sonntag mit mir spazieren zu gehen?«
Da überlegte ich nicht lange. Wir verabredeten uns auf einen Spaziergang nach dem Mittagessen am Waldrand hinter dem Schloss. Nachmittags um fünf mussten wir wieder arbeiten.
Als ich frischgemacht beim Treffpunkt ankam, saß sie dort bereits auf einer Pferdedecke, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt. Sie hatte ein hübsches Kleid mit einem weiten Ausschnitt an. Ich war überrascht, denn ich kannte sie ja nur in Hosen und Gummistiefeln. Neben ihr auf der Decke lag eine Flasche Sekt.
»Komm, setz‘ dich hin und trink einen Schluck«, sagte sie. Mit lauten Knall öffnete sie die Flasche und nahm selbst einen kräftigen Schluck. Ich war nervös, immerhin war sie bestimmt zehn Jahre älter als ich. Aber dann nahm auch ich einen ordentlichen Schluck aus der Buddel.
Die Magd kam schnell zur Sache. Sie fühlte sich warm und weich an und fiel leidenschaftlich über mich her. Das hatte ich noch nie in meinem jungen Leben kennengelernt und war verdutzt. Schnell nahm ich die Sektflasche und trank. Alkohol war ich überhaupt nicht gewohnt. Mir wurde ganz schlecht, dauernd musste ich rülpsen. Die Magd fummelte indessen an mir herum, bis sie merkte, dass es wohl besser gewesen wäre, wenn sie keinen Sekt mitgebracht hätte.
Die erhoffte Liebe war im Eimer, wofür sie gar kein Verständnis hatte und mir die Decke unterm Hintern wegzog. Da saß ich nun mit nacktem Hintern im Gras, denn die Hose hatte sie mir schon ausgezogen.
Abends beim Füttern der Tiere, kam der Verwalter mit einem kleinen Korb Karotten zu mir. »Bringe diese Karotten zur Magd. Gleich, denn sie braucht sie sofort!«
Ich hatte ein blödes Gefühl und die Magd nach dem vermasselten Treffen noch nicht gesehen. Es war wohl eine Entschuldigung fällig, deshalb kam mir die Anweisung mit den Karotten ganz recht.
Sie war im Kuhstall beim Melken.
»Hallo. Ich bringe dir ein paar Karotten«, sagte ich und hielt ihr den Korb hin.
Sie sah in den Korb mit den kräftigen Rüben und stand auf. Das brachte mich zum Lachen, denn der Melkschemel war festgeschnallt und hatte nur ein Bein, das nach hinten abstand, das sah komisch aus.
Sie fand das gar nicht lustig. Wütend entriss sie mir die schönen Karotten, warf sie in hohem Bogen in den Gang und haute mir mit ihrer eingeschmierten Hand voll ins Gesicht. »Dir werde ich was, von wegen Karotten, du Flasche.«
Da dämmerte es mir. Das hatte etwas mit dem Verwalter zu tun. Bestimmt hatte er was gemerkt. Wahrscheinlich verteidigte er auf diese Art sein Jagdrevier.
In der Zwischenzeit hatte das Jugendamt mit meinen Eltern Kontakt aufgenommen und um eine schriftliche Genehmigung sowie um eine Geburtsurkunde gebeten, damit ich endlich zur See fahren konnte. Nach mehreren Wochen kam der ersehnte Brief vom Jugendamt. Mit großer Erwartung öffnete ich den Briefumschlag, in dem ein ungeöffneter Brief von meinen Eltern aus Eberswalde steckte.
Sie schickten eine Absage. Begründung: Die Seefahrt ist lebensgefährlich und ich machte ihnen schon genug Sorgen.
Enttäuscht zerknüllte ich den Brief und warf ihn in einen Eimer, der als Papierkorb diente. Die halbe Nacht grübelte ich, wie es jetzt weitergehen sollte. Auf dem Gutshof bleiben? Auf keinen Fall, das kann nicht die Lösung sein.
Ich wollte es noch einmal in Hamburg versuchen. Viel Zeit hatte ich nicht mehr, denn bald kam der Herbst. Dann wurde es draußen ungemütlich und die Möglichkeit, im Freien zu schlafen, zu gefährlich.
So entschloss ich mich, mit dem nächsten Lohn wieder abzuhauen. Bei Nacht und Nebel – wie immer.
Nach Abzug für Verpflegung und Zimmer blieben noch 100 Mark übrig. Für mich ein kleines Vermögen. Ich packte meinen kleinen Rucksack, legte die mir anvertrauten Arbeitssachen ordentlich auf einen Stuhl und streckte mich bis abends um zehn auf dem Bett aus. Im Haus war es ruhig, alle waren schon schlafen gegangen. Die Landluft und die harte Arbeit machten müde. Leise schlich ich aus dem Haus und ging über die lange Allee in Richtung Hauptstraße.
Da kam mir ein Auto entgegen. Blitzschnell ging ich hinter einem Baum in Deckung, bevor mich die grellen Scheinwerfer erfassten ihn.
Ich hatte vor, wieder über Frankfurt zu gehen – in der Hoffnung, bei Tante Dora wieder etwas Geld zu bekommen. Vielleicht konnte ich dort auch für eine Nacht schlafen und wieder ein schönes Bad nehmen. Ich hatte Erfahrung gesammelt. Fast ruck-zuck war ich in Frankfurt.
Ein Polizist und meine Tanten
Nachdem ich am Haus Hinter den Ulmen 11 vorsichtig geklingelt hatte, stand Tante Rosa im Türrahmen, die eigentlich in Eberswalde zu Hause war. Ach du liebe Güte, was machte die denn in Frankfurt? Sie gehörte nicht zu den Lieblingstante von Ulli und Schwester Christel. Die hatte immer was zu meckern, wenn sie im Garten war, der neben seinem Zuhause lag. Sie war immer übertrieben korrekt, was wir Kinder nicht so toll fanden. Im Sommer lief sie in kurzen Hosen herum, dann sangen wir »Tante Röschen mit dem kurzen Höschen.« Außerdem klaute ich bei ihr immer die ersten blauen Pflaumen und zertrampelte dabei manchmal auch ein Gemüsebeet. Wenn Opa Krause im Garten war, freuten wir Kinder uns, dann bekam jeder etwas Obst geschenkt und ich durfte mit in die Windmühle. Einmal durfte ich sogar die Eisenleiter bis nach oben zum Windrad steigen. Opa Krause trank ganz gerne mal einen über den Durst. Als er einmal nachts von einem Zechgelage nach Hause kam, stürzte er die Kellertreppe runter und brach sich das Genick. Mein Vater vermutete, da hätte jemand nachgeholfen. Diese Gedanken liefen mir durch den Kopf, als ich Tante Röschen sah.
»Wo kommst du denn her? Komm erst mal rein.«
Tante Dorchen saß in der Wohnstube, war mit einem weißen Kittel bekleidet und rauchte eine Zigarette. »Na Ulli, bist du wieder auf Wanderschaft?«, fragte sie ganz ruhig.
Neben ihr saß ein Riese von einem Mann in einer Polizeiuniform, der mir einen Schreck einjagte. Er begrüßte mich freundlich, aber das sollte ja nichts heißen.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2018
- ISBN (ePUB)
- 9783944459844
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2018 (September)
- Schlagworte
- Seefahrt Nachkriegszeit 50er Jahre 60er Jahre DDR Eberswalde Grenzgänger Seemannsleben Schiffskoch Flucht