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Das Gesetz der Familie

Gemeinsam sind wir stark

von Rena Brauné (Autor:in)
©2019 0 Seiten

Zusammenfassung

Die Familie als Quelle der Kraft. Gemeinsam Probleme überwinden oder Großes schaffen. Der familiäre Zusammenhalt ist ein Wert, der durch nichts ersetzt werden kann. In drei Geschichten erzählt Rena Brauné von Familien mit ihren besonderen Schicksalen und wie sie ihr Leben danach ausrichteten. Eine kurze Anschlussgeschichte reflektiert eigene Erinnerungen der Autorin über Familienleben in Portugal.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Das unendliche Nichts

 

In dicke Seemannsjacken eingemummelt stapften die beiden Freunde zum Strand, schnauften weiße Atemwolken vor sich her. Ihre Mützen hatten sie in die Stirn gezogen und die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.

»Bannig kalt heute«, meinte der eine.

»Ja, in Asien war es wärmer«, kam es von dem anderen.

»Dafür allerdings gefährlicher«, erinnerte Jens, der jahrelang die Asienroute gefahren war. Aber wenn er an Shanghai dachte, lief es ihm kalt den Rücken herunter.

Die beiden Männer setzen sich schweigend und entspannt auf ihre Bank. Gleich würde die Sonne aufgehen. Es war zu ihrem Ritual geworden, gemeinsam die Sonne zu begrüßen.

Die beiden waren Seebären, die Seefahrt mit Wind, Wetter und Knochenarbeit hatte sie geprägt. Vor vier Jahren abgemustert, sie selbst nannten es ausgemustert. Sechzig Jahre ist ein gutes Alter, um an Land zu bleiben. Aber der Rhythmus der Seefahrt steckte ihnen im Blut. Alle vier Stunden Wachwechsel. Das führt im Laufe der Jahrzehnte zu einem anderen Schlafrhythmus. Meistens hatten sie zusammen auf einem Schiff angeheuert. Jens als Funker und Krischan als Steuermann, später dann als Kapitän. Jetzt, in der Heimat, waren sie unzertrennlich wie Pott und Pann. Schon als Jungen hatten sie die Insel »unsicher gemacht«, meistens auf harmlose Weise. Oft hatten die Erwachsenen ihnen mehr zum Scherz mit erhobener Faust gedroht, dennoch sollte es Grenzen setzen. Jetzt, wo sie selber alt waren, erinnerten sie sich lachend an manchen Streich. Einmal hatten die Kinder jedoch ein wirklich großes Ding gedreht.

Damals gab es auf der Insel noch viele Fischer, die vom Fang ihre Familien ernähren konnten. Wenn sie abends rausfuhren, musste jeder Handgriff sitzen. Es waren eingespielte Teams.

Den beiden Jungs war damals eine tolle Idee gekommen, wie sie meinten: »Wir ketten die Schiffe aneinander und nehmen die Schlüssel mit!« Gedacht, getan!

Die ersten Fischer, die das Desaster bemerkten, fluchten und schimpften auf die Bengels. Kein Zweifel, wer das Werk vollbracht hatte. Als die Väter der beiden, ebenfalls Fischer, zum Hafen kamen, hätten die anderen sie liebend gern ins Wasser geschubst, aber die beiden Väter waren ebenso wütend, wie ihre Kollegen. Schäumend vor Wut eilten sie nach Hause, rissen die Bengel aus den Betten und verpassten ihnen links und rechts ein paar saftige Backpfeife.

Es war das erste und einzige Mal, dass sie so richtig Dresche bezogen hatten. Normalerweise waren ihre Eltern sehr großzügig. Aber was sie sich jetzt geleistet hatten, war für alle teuer geworden. Die Ohrfeigen waren nicht genug.

Denn schließlich griff alles ineinander. Die Restaurants brauchten den Fisch immer ganz frisch. Viel wurde auch auf das Festland verkauft. Durch diesen bösen Schabernack hatten sie alle viel Zeit und Geld verloren.

Am nächsten Morgen, als die Schiffe wieder im Hafen waren, wurde beratschlagt, wie die beiden nachhaltig bestraft werden sollten. Es gab die verschiedensten Vorschläge.

Da in der darauffolgenden Woche die Sommerferien begannen, konnten sie mehrere Strafaktionen starten. In der ersten Woche sollten sie Decks schrubben – abwechselnd bei jedem Fischer. In der zweiten Woche, sollten sie mit den Fischern rausfahren und tüchtig mit anpacken. Immer auf einem anderen Schiff, aber nie beide zusammen. Sie sollten lernen, wie schwer die Arbeit wirklich war. Ein paar Fische fangen hört sich ja immer so leicht an.

Kaum zu glauben: Diese Arbeit war genau das Richtige für die Jungs, sie waren glücklich. Sie schworen sich, später »Kapitäne auf großer Fahrt« zu werden. Nachdem die Strafe abgearbeitet war, bettelten sie regelrecht darum, ab und zu mit rausfahren zu dürfen, diesmal zusammen.

Dann saßen die beiden dicht beieinander vorn im Bug, schauten bis zum Horizont und träumten von dem unendlichen Nichts.

 

Die Seefahrt soll ihr Leben sein

Nach ihrer Schulzeit haben sie gleich angeheuert und fühlten sich wie Sieger. Aber es wurden die härtesten fünf Jahre ihres Lebens. Viel Salzwasser geschluckt, über die Reling gespuckt und die Decks geschrubbt. Es wurde erst besser, als andere, jüngere Frischlinge an Bord kamen, die sie anlernen durften. Inzwischen hatten sie auch für sich festgestellt, welche Arbeit ihnen am meisten gefiel.

Krischan hatte viel Freude an der Nautik und wollte auf jeden Fall ein Schiff steuern. Er war ein großer blonder Schlacks und mit seinen blauen Augen ein absoluter Frauentyp. Er ließ so leicht nichts anbrennen, wenn sie an Land waren.

Jens, mit seinen dunklen Haaren und seinem stämmigen Körper, war genau das Gegenteil. Viel ruhiger und überlegter als Krischan. An Bord hatte der Maschinist ihm das Boxen beigebracht. Er fühlte sich wohl, wenn er für sich allein arbeiten konnte. Das Funken interessierte ihn stark. Dieses Gefühl, mit der ganzen Welt zu kommunizieren, war sehr reizvoll.

 

In den ersten Jahren hatte der Maschinist die beiden ein wenig unter seine Fittiche genommen. Er hatte ihnen ein paar Regeln beigebracht, wie Seeleute sich an Land verhalten sollten. Auf keinen Fall groß auffallen. Was bei Krischan nicht einfach war. Schon durch seine Höhe und die blonden Haare stand er wie ein Leuchtturm in der Meute aus Kinder und Frauen, die sie bei Landgang bedrängten. Der Maschinist hatte ihnen beigebracht: »Suche dir den Anführer der Kinderschar heraus. Dem gibst du ein paar kleine Scheine und der gibt den anderen etwas ab. Das klappte meistens ganz gut.«

Bei den Frauen ging es nicht so einfach, da hieß es gut aufpassen.

Aber Dank der Erfahrung des Maschinisten, der in jedem Hafen sein Stammlokal hatte und die Frauen ihn alle kannten, bekamen sie den Dreh schnell heraus.

Bis auf das eine Mal in Santos – zur Zeit des Karnevals. Die beiden waren allein an Land gegangen. Erfahren wie sie waren, meinten sie, wer soll uns schon was vormachen. Überall im Hafenviertel und in den angrenzenden Straßen wurde getanzt und gefeiert. Die Stimmung war ausgelassen und voller Lebensfreude. Die Kostüme aufwendig und fantasievoll, immer nur das Nötigste bedeckend. Überall wurden ihnen Getränke angeboten. An jeder Ecke wurden sie zum Mittanzen animiert. Sie hatten große Mühe, zusammenzubleiben.

Um ein bisschen zu verschnaufen, waren sie in ein riesiges, halboffenes Lokal gegangen. An einer Seite eine bunt dekorierte Bühne, es gab Live-Musik, Samba, Rhythmus, der sofort in die Beine geht. Jeder tanzte mit jedem. Die beiden waren fasziniert vom Temperament und der Beweglichkeit der Brasilianer.

Kaum hatte der Wirt sie erblickt, wieselte er auf sie zu und nahm sie ins Schlepptau. In der ersten Reihe vor der Bühne wurde ein Tisch für sie frei gemacht. Den dort sitzenden Personen wurde klipp und klar erklärt, jetzt wären wirklich zahlende Gäste da. Den beiden war das richtig unangenehm und auch etwas unheimlich. Was würden die Gäste machen, die vorher da saßen? Mussten sie nicht furchtbar wütend auf die Gringos sein, die ihre Plätze haben sollten? Nein, überhaupt nicht. Sie lächelten freundlich, und klopften Jens und Krischan auf die Schultern und verzogen sie sich auf die hinteren Plätze.

Zwei wunderschöne Mädchen wurden an den Tisch geführt, dazu wurden Sekt und Nüsse angeboten. Ja, da saßen sie nun und hatten das Gefühl, dass es nicht umsonst zu haben ist. Nur nichts anmerken lassen. Wie sollten sie aus dieser Patsche wieder herauskommen? Viel Geld hatten sie nicht bei sich.

Auf der Bühne wurde getanzt und zwei Mädel zogen Jens und Krischan zu sich hinauf. Die Stimmung und die Musik waren mitreißend. Sie mussten ständig aufpassen, die Hände der Mädels wollten überall hin.

Obwohl sie immer liebreizend angelächelt wurden, waren Krischan und Jens fix auf der Hut. Mit allen Mitteln versuchten, die Mädchen die Jungs auseinanderzubringen, die sich mühten, möglichst in der Mitte der Bühne zu tanzen. Die Mädel strebten immer wieder auseinander, eine links, die andere rechts. Bei Krischan hatten sie es fast geschafft.

Auf einmal drängte sich eine Gruppe wie verabredet in die Mitte. Das wollte Jens auf jeden Fall verhindern. Er legte seine kräftigen Hände um die Hüften des Mädel und drehte sie mit einem Ruck in Richtung Krischan. Ein hoher, spitzer Aufschrei folgte und ihre Hände fuhren in die Schamgegend. Die Kordel vom Tanga war gerissen. Die Reaktion aber war nicht schnell genug gewesen, und Jens hatte genug gesehen: Das Mädel waren gar kein Mädel!

Rücksichtslos machte Jens sich Platz, um zu Krischan zu kommen. Ein paar Boxhiebe taten ein Übriges. Bei Krischan angekommen, zog er an der Tangakordel von dessen Tänzerin rief ihm zu: »Komm!«

Mit einem Satz waren sie von der Bühne – nur schnell raus! Das gelang jedoch nicht so einfach, denn in Sekundenschnelle waren sie von einem Menschenring umschlossen. Dass sie völlig ohne Angst waren, kann man nun wirklich nicht sagen. Aber sie ließen sich das nicht anmerken, obwohl sich in ihrer Magengegend ein mulmiges Gefühl breitmachte.

Auf einmal hörten sie Trillerpfeifen, erst eine oder zwei, dann tönte es wie ein ganzes Orchester. Herein kam der Maschinist und bahnte ihnen eine Gasse nach draußen. Währenddessen ging das Pfeifkonzert draußen weiter. Vor dem Lokal warteten die Kinder mit ihren Vätern, denen die beiden heute ein großzügiges Trinkgeld gegeben hatten. Jens hatte sich beim Freikaufen, bei einem Schein, vertan. Der war eindeutig zu groß ausgefallen – doch jetzt schien er eine lebensrettende Wirkung zu haben.

Einer der Jungen lief in die Bar nebenan, in der sich der Maschinist aufhielt, und hatte ihm alles erzählt. Der hatte keine große Mühe, schnell einen Trupp Pfeifer zusammenzutrommeln, denn eine Trillerpfeife hat hier jeder. Sie ist das einfachste und beste Alarmgerät, das man sich vorstellen kann. Alle waren schnell bereit zu helfen, weil sie den Maschinisten gut leiden konnten und wussten, dass er nie kleinlich war.

Krischan und Jens mussten natürlich noch einmal viel Trinkgeld zahlen. Aber das war es allemal wert. Wer weiß, was ihnen sonst noch passiert wäre. Nachdem sie das Freundschaftsgeld gezahlt hatten, sagte der Maschinist: »Schultern gerade, Kopf hoch und ein flotter Schritt, aber nicht rennen.«

Als sie um die nächste Ecke bogen, waren sie jedoch nicht mehr zu halten. Sie rannten, bis sie auf dem Schiff in Sicherheit waren. Damals haben sie sich geschworen, nie wieder Karneval in Brasilien.

Nach diesem Abenteuer hatten sie Fracht für Santa Cruz in Argentinien. Die wurde schnell gelöscht, zum einen, weil es sich um Obst handelte, zum anderen wartete schon die neue Ladung auf sie.

 

Wahrlich dicke Luft an Bord

Die hatten vorerst keine Lust auf Landgang. Das Erlebnis von Santos steckte ihnen noch in den Knochen. Die neue Ladung bestand aus Düngemittel, fest verpackt in starken, gewebten Säcken auf Paletten gepackt. Beim Stauen wurde mit großer Sorgfalt vorgegangen. Denn es durfte nichts verrutschen oder nass werden.

Dem Kapitän passte diese Ladung überhaupt nicht. Er drückte sich gern drastisch aus: »Ich habe noch nie Scheiße gefahren, und das jetzt wird das letzte Mal sein!«

Die Crew konnte ihn gut verstehen, denn es kroch ein widerlicher, bestialischer Gestank durch das Schiff. Nur an Deck, an der frischen Luft, konnte man frei atmen. Jens konnte es in seiner Funkbude nur mit Atemmaske aushalten. Kurz nach dem Auslaufen hatte er eine Sturmwarnung auf dem Ticker.

»Schlimmer kann‘s nicht mehr kommen«, kommentierte der Kapitän. Alle Mann wurden unter Deck geschickt, um die Ladung zusätzlich zu sichern. Nicht auszudenken, wenn da was verrutschte: »Dann sind wir im Arsch«, meinte der Maschinist.

Der Kapitän änderte den Kurs etwas, sodass ihr Schiff die Nase im Sturm hatte. »Wenn uns diese Brecher von der Seite erwischen, kentern wir«, orakelte der Maschinist.

Er wusste, wovon er sprach, er hatte schon einmal in dieser Klemme gesteckt. Seinem damaliger Kapitän fehlte es an Erfahrung. Er hatte voller Panik reagiert. So schnell wie möglich wollte er dem Sturm entrinnen. Aber der war schneller da als gedacht und knallte voll auf die Breitseite. Das Schiff kenterte und wurde ein Spielball der riesigen Brecher. Zwei Männer der Crew wurden damals von der See verschluckt. Gott sei Dank war ein Tanker in der Nähe, sodass sie aus ihren Rettungsbooten geholt werden konnten. »Lange hätten wir das in unseren Nussschalen nicht mehr gemacht«, erzählte der Maschinist.

Ausgerechnet jetzt musste er das erzählen und allen kroch die Angst den Rücken runter. Obwohl er es nie zugeben würde, aber auch der Maschinist musste wohl seine eigene Angst rauslassen. Denn er sprach sonst nie über das schreckliche Ereignis. Meistens machte er nur eine abwertende Bewegung, wenn man ihn darauf ansprach.

Auch der Smutje, der sonst immer lustig vor sich hin pfiff, war still und in sich gekehrt. »Aber der Kapitän weiß, was er macht, er hat jahrelange Erfahrung in dieser Gegend«, meinte er.

Jens saß wie festgenagelt in seiner Funkbude und verfolgte jedes noch so kleine Geräusch, das aus dem Empfänger kam. Seine Ohren waren schon knallrot vor Anspannung. Er konnte ja sonst nichts tun. Nur hoffen und beten, dass es nicht allzu schlimm werden würde. Gebetet wurde wohl auf dem ganzen Schiff, auch wenn sich das wie fluchen anhörte. Auf See bist du in Gottes Hand, das weiß jeder und man merkt erst dann, wie klein wir alle sind.

Krischan, der als Steuermann oben direkt neben dem Kapitän stand, bekam das Tosen hautnah mit. Erst später vertraute er sich Jens an: »Ich hätte nie gedacht, dass die Wellen so hoch über uns hinweg peitschen können. Man hatte oft das Gefühl unter Wasser zu sein, anstatt darüber. Ich sage dir: Der Sturm kreischte und schrie, ich hatte die Hosen voll. Der Alte hatte das Ruder fest umklammert, als wollte er dem Schiff seinen Willen aufzwingen. Ansonsten – nach außen – die Ruhe in Person. Nur ganz knappe Befehle an die Maschine und an uns. Aber manchmal hat er gegen den Sturm geschrien: ›Du wirst nicht siegen, ich kenne dich, wir sind stärker!‹ Ich hatte große Angst, aber im Inneren war ich überzeugt, wir schaffen das. Mit diesem Kapitän geht alles.«

Eine Stunde ging das Getöse, obwohl es ihnen wie fünf vorkam. Dann flaute es ab und sie atmeten auf, aber der Kapitän meinte: »Ich weiß nicht so recht.«

Alle versuchten ihren normalen, geregelten Aufgaben nachzugehen. Der Smutje holte jede Menge an Essen hervor und brachte es in das Kasino. Die versammelte Mannschaft merkte, wie hungrig sie nach dieser Anspannung waren. Der Funker bekam sein Essen auf die Bude, denn noch gab es keine Entwarnung. Auch der Kapitän und die Steuercrew wurden auf der Brücke persönlich vom Smutje bedient, so konnte er selbst wenigstens ein paar Minuten frische Luft schnappen. Denn auch er hatte seine Zähne die ganze Zeit zusammen gebissen, um die Angst nicht rauszulassen. Und als er gerade auf dem Rückweg zur Kombüse war, musste das Schiff noch einmal einen riesigen Brecher einstecken.

Der Bug wurde hoch gehoben und steckte die Nase kurz in die Luft, um gleich darauf mit Wucht zurück in ein Wellental zu klatschen. Niemand unter Deck war darauf vorbereitet. Es gab ein wildes Durcheinander. Überall flogen Gegenstände umher, es schepperte und knallte. Den Funkgeräten passierte nichts, denn alles ist fest verschraubt. Aber Jens hatte sich den Kopf und das Bein gestoßen. Den Koch hatte es von den Beinen gerissen. Er hatte sich den Kopf angeschlagen und lag im Gang vor der Kombüse.

Er war nicht ganz bei sich, denn als sich die Kameraden um ihn kümmerten, sagte er immer wieder: »Zum Glück keine Suppe, Gott sei Dank.« Nachdem Funker und Smutje nach Erste-Hilfe-Art versorgt waren, wurde der Schaden inspiziert. In der Kombüse sah es aus wie nach einem Bombentreffer. Alles, was nicht aus Blech oder Plastik war, ging kaputt.

Einige Behälter mit Zucker, Mehl und Hülsenfrüchten waren umgekippt. Ein Kanister mit Olivenöl platzte, ebenso einige Milchtüten. So schwappte in der Kombüse eine eklige Pampe.

»Alles kein Problem, wozu haben wir denn unsere Frischlinge!« Darüber gab es keine zweite Meinung in der Crew. Hauptsache, es ist keinem etwas passiert. Und die Frischlinge, noch sehr grün im Gesicht, mussten nun alles aufräumen.

»Weißt du noch«, sagte Jens zu Krischan, »das mussten wir früher machen, – Kinderkram gegen das Chaos von heute.«

Der Rest der Reise verlief ohne Probleme und als das Schiff in Bremerhaven anlegte, musterten die beiden ab, um nach Hause zu fahren. Die Reederei hatte einen Funkspruch für Krischan geschickt. Eine kurze Nachricht nur, für Krischan aber mehr als eine Bitte – das war ein Notruf der Familie: »Komm nach Hause, Vater ist krank!«

Als Jens ihm die Nachricht übergab, sagte er: »Wir gehen beide.«

Die Reederei wusste Bescheid, sie würden für drei Monate aussteigen.

»Dann haben wir endlich mal richtigen Urlaub«, meinte Jens, um Krischan aufzuheitern. Denn der machte sich große Sorgen. Sein Vater krank – das hatte es noch nie gegeben. Das machte diesen Hilferuf so dramatisch.

»Es muss sehr ernst sein«, sagte er immer wieder zu Jens. Der versuchte, ihn mit optimistischer Hoffnung zu trösten, aber es gelang nicht.

 

Abschied vom Vater

Sie hatten vorher angerufen, so dass ein Freund sie mit seinem Boot abholen konnte. Der war auf der Überfahrt sehr einsilbig. Nein, er wüsste auch nichts Genaues. Ein Unfall seit es nicht gewesen. Aber der Vater wäre jetzt schon fast vier Wochen nicht mehr zum Fischen rausgefahren. Die anderen Fischer hätten jeder einen Teil von ihrem Fang für die Familie gegeben.

So machte man das hier. »Jeder für jeden«, hieß das Gesetz, wenn Hilfe gebraucht wurde. Außerdem hatte Krischan regelmäßig Geld von der Reederei überweisen lassen. So musste die Familie wenigstens keine Not leiden. Die beiden Freunde waren fast fünf Jahre nicht zu Hause gewesen, ein komisches Gefühl hatte sie ergriffen.

In Krischans Elternhaus brannte nur in der Küche Licht. Mit klopfenden Herzen betraten sie das Haus. Die Mutter saß still auf der Bank und hatte den Korb mit Flickzeug vor sich. Aber sie hielt ihre Hände still im Schoß. Als ob sie betet, ging es Krischan durch den Kopf. Er hatte seine Mutter noch nie ohne Arbeit gesehen. Es gab immer viel zu tun. Am Abend nähte, strickte oder besserte sie die kaputte Kleidung aus. Krischans Brüder waren zwei wilde Bengel von 14 und 15 Jahren, als er zur See ging. Jetzt waren sie erwachsen und wahrscheinlich nicht mehr so wild. Aber er würde sie morgen sehen. Jetzt musste er sich erst einmal um die Mutter kümmern, der die Tränen nur so herabstürzten.

Er hatte sie nie weinen gesehen, immer war sie stark und streng gewesen.

Jens drückte Krischans Mutter an seine breite Brust und murmelte: »Ich komme morgen wieder.« Und ab durch die Tür.

Krischan holte die Notfall-Flasche Aquavit aus dem Küchenschrank. Er meinte, den würde seine Mutter jetzt bestimmt brauchen. Dann haben sie fast die ganze Nacht zusammengesessen. So konnte sich die Mutter alles von der Seele reden.

»Gott sei Dank bist du jetzt da und kannst alles regeln. Mir traut er ja nichts zu. Ich bin nur eine Frau, gut für Haus und Kinder, aber planen und überlegen das kann ich doch nicht,« sagte sie etwas bitter.

»Der Doktor sagt, ich darf ihn nicht aufregen, und darum widerspreche ich auch nicht. Deine beiden Brüder sind auch hier. Sven versucht stark zu sein. Er ist auch schon bei den Fischern mitgefahren, obwohl er Schlosser ist. Aber Erik, unser Jüngster, der ja immer unser Sorgenkind war, wegen seiner vielen Krankheiten, dreht völlig durch. Er bekommt regelrechte Wutanfälle und neulich hat er sogar den Hund getreten.« Die Mutter drehte verzweifelt an ihrem Taschentuch.

»Ich weiß nicht was ich mit ihm machen soll. Zum Glück hat er seine Malerlehre abgeschlossen und wurde vom Meister übernommen. Ich habe mit dem Meister gesprochen, er ist sehr zufrieden mit ihm. Er sagt, je mehr man Erik abverlangt, desto besser wird er. Und Erik blüht bei ihm richtig auf. Ich hoffe, jetzt wo du da bist, wird alles gut,« murmelte die Mutter. Dabei fielen ihr die Augen zu.

Krischan legte die Mutter auf die Küchenbank und deckte sie vorsichtig zu. Aus dem Augenwinkel sah er noch, dass sich die Katze dazulegte und einkuschelte.

Dann stürmte er raus zum Strand, er musste an die frische Luft. Der Wind würde seinen Kopf wieder freipusten. Denn was er alles gehört hatte, ließ einen gewaltigen Schreck in seinem Inneren zurück. Der Vater wird sterben, das stand fest und höchstwahrscheinlich schon bald. Er hatte Magenkrebs, eine heimtückische Krankheit. Und er war viel zu spät zum Arzt gegangen, weil er es nicht ernst genommen hatte. Ab und zu hatte er über Magenschmerzen geklagt und einen kleinen Aquavit getrunken. Aber seit einigen Monaten hatte er überhaupt keinen Alkohol mehr getrunken, weil es immer so brannte.

Erst als er Blut spuckte, ging er zum Arzt und wollte die Diagnose einfach nicht wahrhaben. Bis er zusammenbrach und in das Krankenhaus kam. Aber da hatten sie ihn nach einer Woche wieder entlassen. Diagnos: Keine Behandlung mehr möglich. Jetzt bekam er Infusionen gegen die Schmerzen – Morphium – mehr konnte man nicht für ihn tun. Essen konnte fast gar nichts mehr, missmutig löffelte er nur noch Brei.

Krischan rannte den Strand rauf und runter. Er tobte und schrie, er weinte und jammerte. Wie ein Baby rollte er sich im Sand. Als seine hilflose Wut langsam abebbte, kamen auch wieder klare Gedanken.

Er musste mit dem Vater sprechen und hören, was der sich alles überlegt hatte. Denn sein Vater war immer ein ruhiger, überlegender Mann gewesen. Darum musste man sich seine Wünsche anhören und auch ausführen. Dann ging er zu Jens, um ihm alles zu erzählen. Er war sich sicher, dass Jens nicht schlief und nur darauf wartete, ihm beizustehen.

Aber Krischan musste gar nichts mehr erzählen, denn Jens wusste schon alles. Die beiden Mütter waren von klein auf Freundinnen, so wie Jens und Krischan. Dadurch wusste sie als Einzige auch genau Bescheid und hatte ihrem Sohn alles erzählt. Der Schock stand ihm noch im Gesicht, als Krischan kam.

So nahm Jens seinen Freund nur in den Arm und sagte: »Wir beide zusammen schaffen das.«

Daraufhin ging Krischan etwas gestärkt nach Hause, um am Morgen alles mit dem Vater zu besprechen.

 

Krischan bekam einen riesigen Schreck, der Vater hatte kaum noch Kraft, aber sein Geist wach und ansprechbar. Er flüsterte nur, seine Stimme hatte keine Kraft mehr: »Ich freue mich, dass du da bist, mein Sohn.«

»Mein Sohn« hatte der Vater nur ein einziges Mal zu ihm gesagt und das war, als Krischan sich zur See verabschiedete. Krischan hatte das noch immer im Ohr, damals sagte der Vater: »Mach uns keine Schande, mein Sohn!« Sonst sagte er immer nur Krischan oder Bengel!

Der Vater streckte ihm die Hand entgegen und ließ es zu, dass Krischan sie lange hielt und streichelte.

Wie Krischan vermutete, waren klare Pläne bei seinem Vater vorhanden. Er sagte: »Für lange Vorreden haben wir keine Zeit mehr. Ich werde dich nicht bitten, an Land zu bleiben, aber ich bitte dich, das Schiff zu verkaufen. Deine Mutter bekommt den Erlös und die Lebensversicherung. Deine Brüder sind keine Fischer, außerdem haben sie eine gute Ausbildung, sie müssen selber sehen, was sie daraus machen. Ich habe mit beiden schon gesprochen und sie sind einverstanden. Uns wurde auch nie etwas geschenkt und deine Mutter muss abgesichert sein. Sie möchte auf jeden Fall auf der Insel bleiben. Ihre Verwandten und alle ihre Freunde leben hier. Deine Brüder leben beide auf dem Festland und wollen da auch bleiben.«

Immer wieder holte der Vater mühsam Luft und presste seine Hand auf seinen Leib. »Es ist alles auch völlig richtig so, jeder hat sein eigenes Leben. Aber du bist ab jetzt das Familienoberhaupt und hast die Verantwortung. Ich weiß, du kannst das und deine Brüder werden auf dich hören. Sie verehren dich und haben sich immer über deine Fahrten genau informiert. Auf der Landkarte haben sie die Route abgesteckt. Auch haben sie mir versprochen, keinen Widerspruch gegen dich zu haben.«

Nach dieser sehr langen Rede fiel der Vater erschöpft zurück in die Kissen und schloss die Augen – was gesagt werden musste, war gesagt.

Am selben Abend traf Krischan sich mit den anderen Fischern am Hafen. Sie waren sehr erstaunt, als sie hörten, Krischan und Jens wollten im Konvoi mit hinausfahren.

Aber Krischan sagte: »Solange Vater lebt, fahre ich das Schiff.«

»Respekt Käptn,« sagten sie, »Wenn du Hilfe brauchst, sag einfach Bescheid.«

Zwei Wochen später starb der Vater. Fast alle Insulaner kamen zu seiner Beerdigung.

Krischan und Jens regelten den Nachlass. Jens konnte beim Verkauf des Schiffs besser verhandeln. Darum wurde ein guter Preis erzielt; der Käufer war ein Einheimischer. So blieb alles auf der Insel. Die Mutter wirkte nach außen gefasst und stark. Sie schickte die beiden jüngeren Söhne wieder zurück auf das Festland, sie hatten sich Urlaub genommen, um Abschied vom Vater zu nehmen. »Jetzt muss das normale Leben ja irgendwie weitergehen«, sagte sie.

Bei Krischan gestaltete es sich etwas anders. Er hatte noch viel zu erledigen und er wollte noch bei der Mutter bleiben. Er hatte sie ja mehrere Jahre nicht gesehen und wollte noch vieles fragen, was er sich früher nie getraut hatte.

Jens hatte von der Reederei einen Anruf bekommen, es war ein Funker ausgefallen, der ausgerechnet auf der Asienreise erkrankte. Er wurde gebraucht, also sagte er ja. Obwohl er Krischan gern geholfen hätte – es hieß Abschied nehmen vom Freund und der Familie. Das Leben fordert es oft anders, als man es selber möchte.

Krischan hatte in der letzten Zeit, die ihm mit dem Vater blieb, Gelegenheit gehabt, viel mit ihm zu sprechen. Er hatte den Eindruck, dass es den Vater erleichterte und er froh war, dass er ihm noch alles erzählen konnte. Denn über persönliche Dinge wurde in der Familie nie viel gesprochen.

Erst jetzt erfuhr Krischan, wie sich die Eltern kennengelernt hatten.

 

Wie der Vater die Familie gründete

Der Vater war eigentlich Lehrer und hatte auf der Insel Urlaub gemacht. An der Eisbude hatten er seine spätere Frau kennengelernt. Antje hatte gerade ihr Eis in Empfang genommen, als ein Mann, der zu eilig unterwegs war, sie unsanft anrempelte und ihr Eis im hohen Bogen davonflog und auf die Straße klatschte. Sie schaute leicht bedeppert aus der Wäsche, so dass der junge Lehrer mitleidig zu ihr ging und sagte: »Ich kaufe Ihnen ein neues Eis, mein Fräulein.«

Er kaufte zwei Kugeln Schoko und Erdbeere, seine Lieblingssorten, und wie sich herausstellte, auch die von Antje. Irgendwie war der Junglehrer gleich hin und weg von Antje, die alle nur Anni nannten. Er stellte sich als »Heinrich« vor und wusste innerlich: Die heirate ich! Und ehe das Eis gegessen war, hat er es ihr sogar gesagt.

Antje erwiderte: »Du spinnst! Ein Lehrer und ich, das erlaubt mein Vater nie.«

»Das lass mal meine Sorge sein«, sagte er.

Antjes Herz aber stand ebenso wie Heinrichs in Flammen. Er schmiss die Schulkarriere hin und heuerte als Hilfskraft auf dem Schiff seines zukünftigen Schwiegervaters an. Aber so einfach lief es nicht. Als Antje vorsichtig andeutete, dass Heinrich ein netter Kerl sei, der ihr als Mann wohl gefallen könnte, rastete ihr Vater aus.

»Den ›Schietenkleier‹? Das kommt überhaupt nicht in Frage!«

Schietenkleier nannte man damals die untersten Hilfskräfte und Heinrich musste verdammt viel »Schiet kleien«, um seinen potenziellen Schwiegervater zu beeindrucken.

Die Schwestern von Antje versuchten, den Vater ein paar Mal umzustimmen. Aber er reagierte richtig empört: »Haltet euch da gefälligst raus. Ich mische mich ja auch nicht in euer Leben.«

Beide Schwestern waren schon verheiratet. Aber Antje hielt guten Kontakt zu ihnen. Eine lebte in Süddeutschland und hatte ein kleines Mädchen. Jeden Sommer besuchte sie die Eltern. Es war jedes Mal eine schöne Zeit mit tränenreichem Abschied. Die andere Tochter zog es schon früh in die Welt hinaus, der Vater nannte sie nur die »Amerikatochter«. Seit sie fortging, kam sie erst einmal zu Besuch auf die Insel.

»Jetzt tut sie so, als wenn sie nie Deutsch gelernt hat. Und alles ist ihr nicht fein genug. Schiet drauf«, grummelte ihr Vater.

Bei Antje fingen die Insulaner schon an zu lästern, nannten sie »alte Jungfer«, denn sie war schon 22 Jahre alt und bisher hatte ihr noch kein Mann gefallen. Dass sie ein Auge auf Heinrich geworfen hatte, war noch nicht genug aufgefallen.

Ihr Vater meinte: »Bleib du man bei uns, bist ja unser Küken.«

Die Eltern von Antje hatten nur Mädchen und davon drei, immer mit einem Jahr Abstand.

Nach der dritten Geburt hatte der Arzt den Schwiegervater zur Seite genommen und sagte besorgt: »Ole, du musst dich entscheiden, entweder du verzichtest darauf, weiter mit Stine (eigentlich hieß sie Augustine) zu schlafen und noch mehr Kinder zu zeugen, weil sie dann nämlich stirbt. Oder wir machen einen kleinen Schnitt und es kommen keine Kinder mehr.«

Der Schwiegervater hätte sehr gerne noch einen Jungen gehabt. »Een‘ Son«, schwebte ihm vor. Wofür rackert man sich denn ab? Man möchte doch später eine gute Sache übergeben. Und was ist mit dem Familiennamen? Er liebte seine Mädels, keine Frage, aber so ein kleiner »Ersatzkapitän«, das wäre die Krönung. Aber lange musste Ole nicht überlegen, denn Stine wollte er auf jeden Fall behalten.

Aber als dann seine Antje, sein »Küken«, sagte, sie erwarte ein Baby, wurde schnell geheiratet. Er richtete ein großes Fest aus, sie ging ja als Letzte aus dem Haus. Danach war der Lehrer, der zum Fischer wurde, der »Son« für ihn.

»Jetzt hast du endlich deinen Sohn«, sagte seine Stine zu ihm und freute sich mit ihm. Niemand durfte ihn mehr »Schietenkleier« nennen. Als der erste Enkelsohn kam, war er verrückt vor Freude. Nachdem es später drei Enkel waren, überschrieb er das Schiff auf seinen Schwiegersohn. Sie fuhren weiter zusammen raus, der Alte als Kapitän, der Schwiegersohn als sein »Son«.

Sie verstanden sich prächtig, was Außenstehende kaum vermuteten, denn so schroff, wie es in der Seefahrt üblich ist, so gingen sie miteinander auch an Land um. Der Schwiegervater nannte Heinrich nie beim Vornamen, immer nur »Son« – und dem gefiel es wie eine Auszeichnung.

Antje sagte manchmal spitz: »Er hat auch einen Vornamen.« Dann grinsten sich die beiden Männer nur an. Aber die Menschen vom Meer, und speziell die von einer Insel, sind stets etwas sonderbar. Nur nicht zu viel Liebe zeigen. Krischan hatte sich oft gewundert, wie distanziert die beiden miteinander waren. Aber wenn der andere nicht dabei war, wurde in den höchsten Tönen von dem Abwesenden gesprochen. Beide waren voller Respekt füreinander.

Der Opa liebte seine Enkel heiß und innig. Seine Frau schüttelte oft den Kopf: »Du wirst ja wieder zum Kind!«, rief sie, wenn er auf der Schaukel saß und mit den Kleinen spielte. Aber in ihren Augen sah man ein freudiges Funkeln.

 

Als die Großeltern schon lange tot waren und Antje inzwischen Mitte 50, gab es ein paar entfernte Verwandte und die Freunde auf der Insel. Auch sie hatte ihre Pläne und wollte sich nicht an die Söhne klammern. Sie war eine starke Frau und hatte das bewiesen, indem sie oft in der Nacht wach im Bett gesessen hatte, wenn Heinrich bei stürmischer See draußen war. Auch aus ihrer Liebe zum Vater hatte sie nie ein Hehl gemacht. Sie waren – bis er so krank wurde – ein Liebespaar und hatten das nie verheimlicht.

 

Das neue Leben der Mutter

»Jetzt muss ich aufhören zu weinen«, sagte die Mutter. »Dein Vater hätte das nicht gewollt, diese Flennerei. Ich helfe ab der nächsten Woche halbtags in der Bäckerei.«

Der Bäcker war ein Cousin von ihr, und seine Schwiegertochter bekam Zwillinge. Darum fiel die Schwiegertochter in Zukunft für den Verkauf aus. Die Frau des Cousins starb jung, deshalb hatte die Mutter ihm schon oft geholfen. Sie wusste also genau Bescheid. Ihr Cousin hatte ihr eine kleine schnuckelige Wohnung in seinem Haus angeboten. Da sich die Backstube und der Laden im gleichen Haus befanden, war das ideal. Die Brüder hatten bei der Renovierung geholfen.

Die Mutter wollte ihr Haus im Sommer an Feriengäste vermieten. Krischan hatte sich mit seinen Brüdern verabredet, denn es mussten einige Umbauten im Haus gemacht werden. Zwei Bäder sollten eingebaut werden, die Küche musste modernisiert werden. Einige Leitungen neu verlegt werden. Und natürlich alles schön in Farbe gebracht werden. Die Brüder würden viele Arbeiten selber ausführen. Krischan gab eine größere Summe, damit alles richtig gemacht werden konnte. Damit waren alle zufrieden, sie wussten, sie machten das für die Mutter.

»Und du, Krischan,« sagte die Mutter, »musst jetzt auch wieder los. Alles ist erledigt und ich sehe, wie du dich hier nur herumquälst.«

Natürlich hatte sie recht und es kam noch etwas anderes dazu. Zwei nette junge Frauen hatten ein Auge auf ihn geworfen. Unter anderen Umständen hätte er wohl nicht so abweisend reagiert, aber jetzt hatte er überhaupt keinen Nerv dafür. Und das unter dem Vorwand, sie wollten ihn trösten. Von denen brauchte er keinen Trost. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass sie sich partout einen Mann angeln wollten.

Also meldete Krischan sich bei seiner Reederei und bekam die Auskunft, ein Schiff, auf dem er als Steuermann fahren könnte, hätten sie im Moment nicht. Aber der Lehrgang für Kapitäne begänne gerade wieder und würde ein halbes Jahr dauern. Danach könnte er vielleicht sein eigenes Schiff als Kapitän haben.

Da musste er nicht zweimal überlegen, denn sein Patent wollte er schon immer machen. Das halbe Jahr ging schneller vorüber als gedacht. Bevor er dann als Kapitän auf große Fahrt ging, fuhr er noch einmal kurz zur Insel rüber.

Die Brüder hatten inzwischen das Elternhaus komplett umgekrempelt. Die meiste Arbeit erledigten sie selbst, und wenn sie mit den eigenen Händen nicht auskamen, waren die Freunde schnell und zupackend zur Stelle. Nur für das Reetdach, das an einigen Stellen ausgebessert werden musste, wurde ein Fachmann geholt.

Krischan hatte noch ein paar Tage Zeit, bevor er auf sein Schiff musste. Die wollte er im Familienkreis verbringen. Sie gingen durch die renovierten Räume und jeder hatte für sich ein anderes Empfinden. Die beiden Brüder waren recht stolz auf ihre geleistete Arbeit. Es lief so perfekt, wie sie es in tagelanger Arbeit geplant hatten. Manchmal waren sie unterschiedlicher Meinung gewesen, einigten sich jedoch stets schnell auf einen Kompromiss. Schließlich waren beide geschickte Handwerker. Dass beide inzwischen auf dem Festland lebten, tat der Verbundenheit mit der Insel keinen Abbruch.

Sven, der Schlosser, wäre am liebsten selbst wieder in das Haus eingezogen. Aber inzwischen hatte er sich auf dem Festland verlobt. Seine Verlobte, die als Arzthelferin einen sehr guten Job hatte, wollte partout nicht auf der Insel leben.

Sven sagte: »Ich habe es inzwischen akzeptiert, denn ich habe auch einen sehr guten Arbeitsplatz auf dem Festland, so etwas gibt man nicht so leicht auf. Obwohl ich früher immer gedacht habe, ein paar Jahre Festland und dann zurück auf die Insel. Aber später ist es für die Kinder auch einfacher mit der Schule.«

So weit ist es also schon, sie planen schon Kinder, dachte Krischan. Wie reif die Brüder für ihr Alter waren, ging ihm erst jetzt auf. Erik, der alle Malerarbeiten ausgeführt hatte, schlenderte von Raum zu Raum. Er freute sich, dass alles so schön geworden war. Helle freundliche Pudertöne hatte er für die Räume ausgesucht. Für die Schlafzimmer ein zartes Sonnengelb. So dass man beim Erwachen schon den Eindruck eines sonnigen Tages hatte. »Eine Gutelaunefarbe«, sagte er mit stolzgeschwellter Brust. Den großen Wohnraum hatten sie aus zwei kleinen Räumen gemacht und farblich unterteilt. Der Wohnbereich sollte zum Kuscheln und Relaxen einladen und war in einem zartem Aprikotton gehalten. Den Essbereich hatte er etwas kräftiger im Terrakottaton gestaltet. Eine handgemalte Blattranke rahmte das Ganze ein. Die beiden waren über sich hinausgewachsen.

Krischan und die Mutter stimmten wahre Lobeshymnen an. Die beiden Söhne aalten sich in soviel Anerkennung, spielten es aber dennoch herunter: »Wir haben es für die Familie getan.«

»Ja«, sagte Krischan, »alles für die Familie, ich kann immerhin etwas von meiner Heuer geben, denn an Land habe ich zwei linke Hände und bin handwerklich zu ungeschickt.«

Die Mutter ging leise und fast träumend durch die Räume. In Gedanken schien sie weit zurück in der Vergangenheit zu sein. An ihrer Miene konnte man ablesen, dass so manches Ereignis, das nur für sie wichtig war, jetzt vor ihrem inneren Auge wieder auftauchte. Sie fuhr zärtlich über die wuchtigen, mit Handschnitzerei versehenen Schränke. Viel zu schwer und zu groß, um sie in ihre jetzige Wohnung mitzunehmen. Auch der schwere Esstisch aus Eiche und die schweren Friesenstühle waren im Haus geblieben. Die Möbel hatten immer in der guten Stube gestanden und wurden nur zu besonderen Anlässen benutzt. Eine Couch oder einen Sessel gab es früher nicht im Haus. Die Familie hielt sich vorwiegend in der Küche auf. Durch den Abriss der Wand zwischen den beiden Zimmern, kamen Esstisch und Stühle erst richtig zu Geltung.

Und für die Feriengäste mussten natürlich auch ein Sofa und zwei Sessel hinein. Das verstand sie wohl, aber eine starke Wehmut blieb in ihr. Obwohl sie die Renovierung voller Überzeugung lobte und an keiner Sache etwas auszusetzen hatte, sprach ihre Miene eine andere Sprache. Still nahm sie Abschied von ihrem bisherigen Leben.

Es beruhigte sie, dass sie nie wieder hier wohnen wird. Es war nicht mehr ihr gewohntes Zuhause, sondern ein Haus, wie alle anderen Häuser. Sie fühlte sich wie eine Fremde. Die Gefühle und Erlebnisse bleiben nur noch in ihr selbst, als die Räume noch wie früher aussahen. Aus dem Haus waren sie verschwunden. So bleib das Haus nur ein Haus wie jedes andere. Erinnerungen vertragen nun mal keine neuen Tapeten.

Krischan hatte sie genau beobachtet und fühlte mit ihr. Sie waren ja beide nicht bei dem Umbau dabeigewesen, so wie die Brüder. Für die Brüder ging die Veränderung Stück für Stück. Krischan und die Mutter standen jedoch wie von einem in den anderen Moment in dem verwandelten Haus. Auch Krischan spürte einen kleinen Schock, hatte sich jedoch schnell wieder gefangen. Die Brüder hatten es so toll gemacht, auch mit der Einrichtung hatten sie sich große Mühe gegeben. Immer darauf bedacht, dass es nicht zu teuer wurde.

Krischan lobte die Arbeit bewegt: »Ich finde, ihr habt dafür einen Orden verdient, aber vielleicht ist das eine praktischere Idee: Ich lade euch zum Essen ein.«

»Ja« sagte die Mutter, »wir müssen das feiern.«

Krischan blieben noch ein paar Tage. Dann fuhr er mit ruhigem Gewissen fort. Es lief alles in die richtige Richtung. Auf die Brüder konnte er sich verlassen. Sie würden sich liebevoll um die Mutter kümmern. Er würde mit allen in enger Verbindung bleiben, aber wann er wieder nach Hause kommen konnte, das wusste keiner. So blieb nur ein Teil seines Herzens auf der Insel. Der andere Teil drängte gespannt danach, was ihm die Zukunft bringen würde.

Mit Jens hatte er die ganze Zeit in Verbindung gestanden. Er wusste immer, wo sich sein Schiff gerade aufhielt. Leider fuhr Jens immer noch die Asienroute, und sie wussten nicht, wann sie sich wiedersehen würden. Jetzt musste Krischan herausfinden, welcher Art das Schiff war, das er bekommen sollte. Wie war die Mannschaft und die Stimmung an Bord? Welche Pläne hatte die Reederei mit ihn? Es gab noch einige offene Fragen. Doch er schaute optimistisch voraus und hatte für alles ein offenes Ohr.

 

Freundschaft, Seefahrt und Familie

Wenn die beiden Alten jetzt auf ihrer Bank saßen und die Sonne begrüßten, dachten sie oft an ihr Wiedertreffen. Sie hatten damals nicht erwartet, dass es Jahre dauern würde, bis sie sich wiedersehen würden.

Krischan musste damals nach Rostock, da wartete sein Schiff auf ihn. Gespannt und mit Herzklopfen ließ er sich per Taxe zum Schiff bringen. Er lief erst einmal am Kai die Länge des Schiffes ab, bevor er an Bord ging. Es war tipptopp in Farbe, das sah er auf den ersten Blick, alles gepflegt und in bester Ordnung. Also konnte er davon ausgehen, dass das Schiff immer unter guter Führung gewesen war. Gute Stimmung an Bord machte vieles einfacher, dann vollzieht sich auch ein Kapitänswechsel ohne Probleme.

Krischan wurde vom alten Kapitän mit Respekt empfangen. Seine Zeugnisse waren gut, was aber nichts hieß. Wichtiger war die Fürsprache seines vorherigen Kapitäns. Die beiden Kapitäne kannten sich und hatten sich über ihn ausgetauscht. Anscheinend war es ein positives Gespräch gewesen. Eine gute Voraussetzung für ihn, aber auch eine starke Verpflichtung. So jung wie er war, wusste er doch, worauf es ankam. Er würde es mit viel Leidenschaft und Herzblut schaffen.

Die nächsten zwei Jahre waren anstrengend, aber auch erfüllend. Er musste sich natürlich erst einmal als tüchtiger Kapitän beweisen. Aber nachdem ihn seine Mannschaft ein paar Mal getestet und festgestellt wurde, »der Alte ist okay«, standen sie geschlossen hinter ihm. Sie fuhren die Ostseeroute, Polen, Finnland, Schweden, Norwegen. Hauptsächlich Stückgut, und Rostock als ihr Heimathafen lag innerhalb der üblichen Route.

Krischan war es recht, dass er nicht Südamerika bekommen hatte. So konnte er, wenn er frei hatte, schnell mal die Familie treffen. Die Mutter kam dann aufs Festland, und sie trafen sich bei Sven. Der hatte inzwischen geheiratet und ein Baby war unterwegs. Die beiden Brüder verstanden sich immer besser, seit sie zusammen das Elternhaus renoviert hatten.

Gemeinsam hatten sie ein großes, altes Haus gekauft. Das Haus hatte Erik durch einen Auftrag seiner Arbeitsfirma entdeckt. Es war renovierungsbedürftig, aber mit ihrer Erfahrung machte es ihnen einen Riesenspaß, zwei Wohneinheiten daraus machen, um es zusammen zu nutzen.

Im Garten standen wunderschöne alte Obstbäume. Es gab eine fast zugewachsene Gartenlaube. Die Frauen fanden sie wildromantisch. Ja, die Frauen, denn auch Erik hatte inzwischen seinen Schatz gefunden. Seine Verlobte arbeitete als Lehrerin in einer Vorschule und strahlte eine Ruhe und Gelassenheit aus, die für den zappeligen Erik Balsam war. Alle vier verstanden sich ausgezeichnet, und auch die Frauen waren mit Feuereifer bei der Arbeit am Haus.

»Von der Laube hauen wir dann noch das Grünzeug ab, so dass viel Licht herein kann«, meinten die Brüder.

Protest von den Frauen: »Nein, um Gottes Willen, sie muss so bleiben, wie sie ist, so stimmungsvoll. Und am Abend lassen wir viele Kerzen brennen und es gibt ein schönes Abendessen, wir können uns das schon richtig vorstellen. Wir wollen nicht viel Licht, wir wollen lieber viel Grün und Romantik«, meinten die beiden Frauen.

Die Brüder grinsten sich an: »Die Frauen sind sich immer einig, was wollen wir da machen.«

»Ihr könnt ja den Grillplatz woanders hinsetzen, Platz genug gibt es im Garten«, kam es von den Frauen.

Die Idee der Männer war es, die Laube zum Grillplatz zu machen. »Naja, wir werden schon ein anderes kleines Plätzchen finden«, so der Kommentar der Brüder.

Jedes Mal, wenn Krischan zu Besuch kam, hatten die Arbeiten schon einen großen Fortschritt gemacht. Im Wohnzimmer hatte es einen Wasserschaden durch den Wintergarten gegeben. Die kaputten Scheiben im Wintergarten waren inzwischen ersetzt. Aber an der Außenwand zum Wohnzimmer und auf der Innenseite waren noch deutliche Spuren zu sehen.

»Dieses Haus bringt mich noch an den Bettelstab«, hatte die Vorbesitzerin gejammert. »Andauernd ist etwas anderes kaputt. Ich habe einfach nicht mehr die Nerven dafür. Am liebsten würde ich es verkaufen. Aber wer will so einen alten großen Kasten schon haben?«

»Ich«, meinte Erik, »mir gefallen alte Häuser viel besser als die Neubauten.«

Er erzählte der alten Dame begeistert von seinem Elternhaus und wie sie es renoviert hatten. »Ein Schmuckstück ist es geworden. Sie sollten sich das mal ansehen, wir vermieten auch.«

Er hatte eine interessierte Zuhörerin getroffen. Zum Schluss meinte sie: »Geben sie mir doch mal die Adresse, ich werde Ihre Mutter anrufen. Ich hatte mir schon lange vorgenommen, einmal auf der Insel Urlaub zu machen.«

Nachdem Erik alle Arbeiten bei ihr erledigt hatte – aus zwei Tagen waren inzwischen zwei Wochen geworden, weil immer neue Wünsche hinzukamen – sagte sie: »Morgen fahre ich auf die Insel. Ich habe mit Ihrer Mutter alles abgemacht.«

»So«, meinte Erik nur, »dann wünsche ich Ihnen einen schönen Urlaub. Wenn Sie irgendwann verkaufen wollen, sagen Sie Bescheid. Ihr Haus gefällt mir, auch wenn nach dem frischen Anstrich noch vieles gemacht werden muss.«

Damit gingen sie auseinander und Erik dachte: Das war es. Zwei Monate später bekam er einen Anruf: »Ich will jetzt verkaufen«, sagte eine energische weibliche Stimme. Im ersten Moment wusste er nicht, wer am Telefon war, bis sie sagte, »Ich habe auch schon mit Ihrer Mutter gesprochen.«

Da kam ihm die Erleuchtung. »Aber was hat meine Mutter damit zu tun?«, fragte er.

»Ja, das ist so«, sagte sie, »als Sie bei mir waren, hat mich Ihr Nachname schon stutzig gemacht, ich habe auch die Bilder gesehen. Und Ihre Mutter hat es mir dann bestätigt: Ihr Vater war mein erster Freund. Er hatte sich wegen ihrer Mutter von mir getrennt. Pech für mich, aber es wandelte sich zum großen Glück, sonst hätte ich doch nie meinen Mann kennengelernt. Als junges, dummes Ding denkst du ja, die Welt geht unter, wenn sich jemand von dir trennt. Aber ich wäre wahrscheinlich nie wirklich glücklich mit Ihrem Vater geworden. Er für mich einfach überkorrekt und machte alles mit großem Ernst.«

Ja, das stimmte, diese Eigenschaft kannte Erik aus eigener Erfahrung.

»Aber«, fuhr sie fort, »danach habe ich die große Liebe meines Lebens getroffen. Ich wurde verwöhnt und geliebt, bis zum letzten Tag. Ich brauche mir keine Sorgen machen, er hat für alles bis ins Kleinste gesorgt. Leider haben wir keine Kinder bekommen, aber richtig gestört hat es uns nicht. Wir waren uns immer genug. Jetzt habe ich mit eigenen Augen gesehen, welch großartige Arbeit Sie und Ihr Bruder geleistet haben. Mein Entschluss steht fest, ich möchte es Ihnen beiden verkaufen. Über den Preis werden wir uns sicher einig.« Erik hörte sie leise lachen.

»Stellen Sie sich vor, Ihre Mutter und ich haben viel zusammen gelacht. Wir haben viele Spaziergänge unternommen und über die Vergangenheit gesprochen. Wir fühlten uns wie Teenager. Ich war lange nicht mehr so glücklich. Es ist für mich fast so, als sei ich ein Teil der Familie. Darum habe ich mir überlegt, das Haus sollte in Ihre Familie kommen. Natürlich nur, wenn Sie das immer noch möchten. Ihre Mutter meinte, es ist fast ein Geschenk. Aber ich weiß auch, dass noch viel Arbeit geleistet werden muss und bei Ihnen wäre es in guten Händen.«

Als sie den Preis nannte, blieb Erik für einen Moment die Luft weg. Ja, das war ein Geschenk, nicht nur fast. Sicher würde Sven das auch so sehen, er musste nur die ganze Geschichte kennen.

Der war allerdings mehr als skeptisch. »Wie kommt sie dazu? Will sie sich in unsere Familie einschleichen? Sollen wir sie vielleicht später pflegen? Welche Bedingungen sind daran geknüpft?«

Beinahe hätten sie sich noch in die Wolle gekriegt. Erik schlug schließlich vor, dass alle zusammen die Sache mit der Mutter besprechen sollten. Es wurde eine lustige Besprechung, bei Kaffee und Kuchen und einem Lütten hinterher. Und das Schönste war: Es gab keine Extrabedingungen.

Die Mutter musste keine Überzeugungsarbeit bei Sven leisten. Denn als er alles verstanden hatte und die Verkäuferin kennenlernte, jubelte er laut: »Ja, ja.« Mit leuchtenden Augen wurden Pläne gemacht. So sind sie zu dem Haus gekommen – oder das Haus zu ihnen.

Die beiden Brüder arbeiteten in jeder freien Minute am Haus. Manchmal halfen noch Freunde mit, und wenn Krischan kam, wurden ihm die niederen Arbeiten aufs Auge gedrückt. Weil er ja so ungeschickte Hände hatte, wie er von sich behauptete.

Die Mutter war stolz auf ihre Jungen. Der eine so tüchtig als Kapitän, die beiden anderen so fleißig und geschickt in ihren Berufen, genau das handwerkliche Geschick, wie es beim Umbau gebraucht wurde.

Ab und zu brachte die Mutter die frühere Besitzerin mit. Die beiden waren enge Freundinnen geworden und selbst die Brüder hatten das Gefühl, sie gehöre zur Familie. Sie war nie aufdringlich und mit ihren Ratschlägen sparsam, handelte aber bei den Lieferanten so manchen Rabatt für die Jungen aus. Und ihr kullerten die Tränen über die Wangen, als sie hörte, dass Laube, so bleibt, wie sie ist.

»Da hängen so viele Erinnerungen dran«, erzählte sie. »Mein Mann und ich haben Anfang Mai geheiratet. Das Haus hatte mein Mann kurz vorher einem alten Ehepaar abgekauft. In der Zeit unserer langen Hochzeitsreise sollte alles neu gestrichen und die Küche und die Bäder renoviert werden. Die Handwerker hatten drei Monate Zeit und versprachen uns, alles würde rechtzeitig fertig werden. So schön und aufregend die Reise auch war, wir fieberten doch unserem ersten eigenem Zuhause entgegen. Mein Mann trug mich über die Schwelle, ja, das machte man damals so. Aber dann stieß er mit mir gegen eine Leiter – großes Getöse und Geschepper.

Als wir endlich den Lichtschalter fanden, sahen wir die Bescherung. Im Flur standen noch jede Menge Farbeimer und Handwerkszeug. Das Badezimmer war nur zur Hälfte gekachelt. Gott sei Dank gab es Waschbecken, Toilette und Wasser. Für das Schlafzimmer hatten wir französische Tapeten ausgesucht, die Wände aber zierte noch langweilig grauer Putz. Das Bett lud unterm vor Staub schützenden Laken nicht zum Träumen ein. Im Haus roch es nach abgestandener Luft und muffiger Wärme. Ich riss erstmal die Fenster auf. Mein Mann schimpfte: ›Wir gehen ins Hotel‹.

Ich hatte inzwischen die Laube im Garten erblickt – und es duftete nach Rosen und Erde. ›Nein‹, sagte ich bittend, ›lasst uns hier bleiben. Wir schaffen die Matratzen in die Laube und schlafen da.‹ Damals gab es nur ein halbes Dach und wir lagen direkt unterm Sternenhimmel. Einfach unglaublich, wir glaubten zu fliegen. Für mich war das erst die richtige Hochzeitsnacht.«

Jetzt hatte diese zugewachsene Laube für die Frauen erst recht eine romantische Bedeutung. »Als wenn wir es geahnt hatten«, meinten sie und dachten dabei nicht an den Sternenhimmel.

Die Brüder verdrehten nur die Augen. Aber sie würden sowieso nichts dagegen sagen, denn bei Svens Frau Marlis stand die Geburt bevor. Und Schwangere darf man nicht aufregen, das war den beiden schon klar. Sven war so aufgeregt, als ob er das Baby bekommen sollte, Marlis dagegen war die Ruhe in Person. Als Arzthelferin hatte sie bereits einmal bei einer Geburt geholfen. Nur jetzt, bei der Hitze, sehnte sie sich das Ende der Schwangerschaft herbei. Ihr Sehnen wurde erhört – zwei Tage zu früh, und Sven war dabei, als sein Sohn das Licht der Welt erblickte – und schließlich erschöpfter als seine Frau, aber auch doppelt so stolz.

Nach der Geburt kam die neue stolze Oma für ein paar Tage ins Haus, um zu helfen und Marlis zu verwöhnen – und natürlich, um sich sofort in ihren Enkel zu verlieben.

Sie flüsterte ihm immer wieder ins Ohr. »Du siehst deinem Opa sehr ähnlich.« Sie strahlte ihre Schwiegertochter an und meinte: »Er versteht mich, er schaut mich mit so großen, wissenden Augen an.«

Was sie ihm zugeflüstert hatte, sagte sie nicht, auch Großmütter haben ihr Geheimnis.

Sven hatte es jetzt mächtig eilig, das Haus sollte fertig werden und trieb Erik noch ein bisschen mehr an. Er wollte so gerne die Taufe im Haus feiern. Sie rechneten zusammen aus, was an Zeit und Geld noch nötig war. Das Resultat empfanden sie niederschmetternd, es würde fast noch ein Jahr dauern, wenn sie mit ihren finanziellen Mitteln so weiterbauen würden.

»Das dauert viel zu lange, wir können ja nicht mit der Taufe warten, bis der Lütte in den Kindergarten kommt«, meinte Sven.

»Nein, so lange möchten wir auch nicht warten,« sagte Erik, »denn wir würden gern unsere Hochzeit und die Taufe zusammenlegen.«

»Das ist die Idee, eine Doppelfeier, das machen wir«, meinte Sven, »aber wie das Geld auftreiben, damit es schneller voran geht. Vielleicht bekommen wir ja eine Hypothek, ich werde mal mit unserer Bank sprechen.«

Sie rechneten noch einmal genau nach, wieviel sie benötigen würden, wenn sie in einem halben Jahr fertig sein wollten. Dann müssten sie einige Arbeiten an andere Handwerker abgeben. Die Mutter wollte ihnen auch etwas Geld geben, es sei ja noch alles da vom Verkauf des Schiffes, argumentierte sie. Aber das wurde kategorisch abgelehnt. »Das muss dein Geld bleiben, man weiß doch nie, was einmal kommen wird. Wir regeln das mit der Bank.«

Am Nachmittag stand Krischan unangemeldet auf der Matte. Seine Mutter hatte ihn angerufen und versucht, ihm alles zu erzählen. Aber es rauschte und knackte in der Leitung. Er verstand nur brockenweise: »Baby ist da … sie rechnen … wollen fertig … Hypothek.«

Zufällig hatte er zwei Werfttage in Schweden und so nahm er den nächsten Flieger nach Hause. Die Überraschung war geglückt, und mit Freudentränen benetzt. Nachdem er den Lütten begutachtet hatte, durfte er ihn vorsichtig im Arm halten. Krischan war gerührt. »Hoffentlich mache ich nichts falsch«, sagte er.

»Nein, du machst das großartig, steht dir gut«, wurde ihm bestätigt. Wie im Chor sagten sie: »Wir möchten dich bitten, Pate zu sein.«

Dieses warme Glücksgefühl stellte sich bei Krischan nur sehr selten ein. Das gab es nur im Kreise der Familie, wenn er merkte, wie wichtig der Zusammenhalt war. Dann sagte er: »So nun mal Butter bei die Fische, wo ist das Problem?«

Die Brüder erzählten ihm, dass sie eine Hypothek aufnehmen wollten, denn schließlich wäre das Haus ja inzwischen wertvoller geworden. Sie wollten in einen halben Jahr hier im Haus die Taufe und die Hochzeit von Erik feiern.

»Ja, das ist eine tolle Idee,« sagte Krischan, »aber Hypothek kommt nicht in Frage. Das Geld kommt von mir, schließlich bin ich Pate, Trauzeuge und wieder Pate auch bei deinem Sohn, nicht wahr, Erik? Ich will keine Widerreden hören. Ob ich jemals Kinder haben werde, weiß ich nicht, bei meinem Luderleben.« Er grinste sie breit an.

Dann gaben sie sich das Versprechen, immer füreinander da zu sein. Krischan flog froh und glücklich wieder zurück zu seinem Schiff.

Die Familie wurde immer größer und dass es nicht seine eigenen Kinder waren, störte ihn überhaupt nicht. Er sagte sich: Ich habe noch so viel Zeit und die Richtige noch nicht getroffen.

Vor allem aber: Er konnte sich nicht entscheiden. Es gab nämlich zwei Frauen, eine in Schweden und eine in Norwegen. Aber er würde sie mehr als Freundinnen und Geliebte bezeichnen und es war ihm inzwischen fast zur Routine geworden. Beide Frauen fingen an zu drängeln und wollten eine feste Bindung. So gerne er mit ihnen zusammen war, aber für immer, das konnte er sich nicht vorstellen.

Und wenn – mit welcher?

Wen Krischan wirklich vermisste, das war Jens. Sie hatten sich fast fünf Jahre nicht gesehen. Sie waren jetzt Mitte vierzig und wollten versuchen, wieder zusammen auf einem Schiff zu fahren.

Krischan sprach mit der Reederei. Im nächsten Jahr zum Sommer wäre es möglich, sagte man ihm. Dann würde der Kapitän des Schiffs, auf dem Jens Funker war, in Rente gehen.

»Asien wäre doch bestimmt interessant für Sie«, meinte der Reederei-Chef.

»Ja, das wäre eine tolle Sache«, sagte Krischan. Jens fuhr auf dieser Route jetzt schon einige Jahre, aber er schwärmte immer noch davon. Sie konnten bestimmt vieles gemeinsam erleben. Jens könnte ihm die schönen Orte zeigen, die er schon kannte. Ein Jahr geht schnell vorbei, trösteten sich die beiden.

Aber einiges konnten sie nicht zusammen erleben, zum Beispiel die Hochzeit von Erik und die Taufe des ersten Enkels. Die Brüder hatten sich entschlossen, beides kurz vor Weihnachten zu feiern. Denn Krischan konnte zu Weihnachten nicht nach Hause kommen. Und ohne Trauzeugen und Paten geht gar nichts. Also wurde es gleichzeitig ein vorgezogenes Weihnachtsfest.

Das Haus war festlich geschmückt mit Tannengrün und Kerzen. Im Ofen brutzelte die Gans. Überall duftete es nach Keksen und Stollen. Die Mutter und die Vorbesitzerin hatten schon tagelang gebacken und vorgekocht. Mit roten Wangen und leuchtenden Augen waren sie am Werk. Es wurde viel gelacht und gesungen. Die beiden jungen Frauen mussten sich um nichts kümmern und nahmen das Geschenk gern an.

Selbst das Taufkleid hatten die beiden Omas, so wurden sie von der Familie genannt, zusammen genäht. In der Laube hatten sie ein großes Krippenspiel aufgebaut, es stammte noch von den Großeltern. Es wurde gelacht und geweint, es entstand eine unwirkliche, feierliche Stimmung. Hochzeit, Taufe und Weihnachten zusammen, das empfand selbst ein hartgesottener Seebär wie Krischan als zuviel. Ein bisschen Wehmut machte sich bei ihm breit, aber er wusste, auf See würde alles wieder gut und im Lot sein.

 

Notruf aus Shanghai

Im Februar dann der Schock, sie hatten stürmische See, Windstärken um acht bis neun. Wie immer um diese Jahreszeit, also nichts Außergewöhnliches.

Was allerdings dann passierte, damit konnte keiner rechnen: Krischan wurde von der Reederei zurückbeordert. Er sollte sofort nach Shanghai fliegen.

Die Reederei hatte schon alles geregelt. Der alte Kapitän von der Ostseeroute würde Krischans Schiff übernehmen. Bis man mehr wusste, denn keiner konnte etwas Genaues sagen. Ein Telegramm vom Schiffsmakler in Shanghai bereitete Sorgen: »Funker stirbt! Messerattacke!!«

Das Schiff, auf dem Jens fuhr, lag in Shanghai in der Werft. Die Mannschaft hatte dann normalerweise Landurlaub. Was ist da passiert? Krischan spürte den Herzschlag bis zum Hals.

Jens, der besonnene Jens, der jedem Ärger aus dem Weg ging. Oft spürte er schon vorher die Gefahr und sie waren rechtzeitig abgehauen. In einer Hafenstadt herrscht immer eine besondere Atmosphäre und in exotischen Ländern sowieso. Man hörte es oft: Eben lachen sie dich noch an, zwei Minuten später hast du ein Messer zwischen den Rippen!

In Krischans Innerem brauste und tobte es, nach außen hin hatte er sein Kapitänsgesicht aufgesetzt. Das hatte er sich im Laufe der Jahre oft zu Nutzen gemacht. Er konnte sein Gesicht abschalten, wie er das nannte.

Bei der Ankunft in Shanghai, der Makler holte ihn ab, war Krischan in einer richtigen Kampfstimmung. Der Makler blockte alle Fragen ab. Er sollte mit der Polizei sprechen, er wusste angeblich auch nichts Genaues.

Er hatte nur gehört, dass es bei einen Wettkampf beim Kickboxen passiert war. »Kickboxen?«, fragte Krischan, »aber Jens kann doch nur Zuschauer gewesen sein, oder?«

»Ja, natürlich, da können keine Ausländer antreten.« Er verzog dabei sein Gesicht verächtlich.

Na warte, dich knöpfe ich mir später vor, dachte Krischan. Aber zuerst zu Jens, sein Blutsbruder, er musste leben. Er würde alles tun, damit Jens nicht starb. Er hatte sich genug Geld eingesteckt, vielleicht müsste er einige Leute bestechen, um Jens zu helfen.

Er wusste genau, wie man das macht, das hatte ihnen damals der Maschinist auf der Südamerikaroute beigebracht. Und damit hatte er ihnen in Santos wahrscheinlich das Leben gerettet. Fang bei Klein an, dann werden dir die Türen nach oben geöffnet. Nur so kommt man an die wichtigen Personen. Da kostet es natürlich sehr viel mehr, aber sonst kommt man nie an sie heran.

Im Hospital war er dank seiner großen, blonden Erscheinung und dem Arm voller Blumen für die Schwestern das Ereignis. Eine Schwester nahm ihn gleich an die Hand und brachte ihn zu Jens. Klein und zierlich brauchte sie zwei Schritte, wenn Krischan einen machte. Sie trippelte mit ihm in das Krankenzimmer. Sie plapperte die ganze Zeit, aber er verstand kein Chinesisch. Ihr Gesicht zeigte eine besorgte Miene. Sie klopfte sich immer wieder auf die Brust und verdrehte die Augen dabei. Krischan entnahm daraus, dass sie bei Jens wohl einen Elektroschock ansetzten mussten, da er sonst gestorben wäre.

Jens sah schrecklich aus, sein Gesicht spitz und weiß. Sein Atem ging unregelmäßig und der kalte Schweiß stand auf seiner Stirn. Die kleine Schwester tupfte ihn gleich ab, dabei strich sie zärtlich über seine Wange. Er lag allein im Zimmer, und es machte einen sauberen und ordentlichen Eindruck. Im Halbdunkel konnte er in einer Ecke ein Feldbett erkennen. Krischan hatte den Eindruck, dass sich alle gut um Jens kümmerten.

Krischan saß noch keine zwei Minuten am Bett, als ein kleiner pummeliger Chinese den Raum betrat und sich als der behandelnde Arzt vorstellte; die Schwestern hatten ihn gleich alarmiert. Krischan verbeugte sich, der Chinese verbeugte sich und sagte in einwandfreien Deutsch: »Ihrem Freund geht es inzwischen ein wenig besser, aber er ist noch nicht über den Berg. Wir mussten den Elektroschock einsetzen, sonst wäre er gestorben. Sein Herz machte eine kurze Pause. Aber zum Glück konnten wir ihn schnell wiederholen. Am besten wäre, er bekäme eine Bluttransfusion, aber wir haben seine Blutgruppe nicht hier.«

»Die kann er von mir haben«, sagte Krischan eifrig, »wir haben die gleiche Blutgruppe. Wir sind Blutsbrüder«, sagte er mit Stolz. »Kennen sie den Begriff«, fragte er den Arzt?

Der nickte mehrmals. »Doch, ich weiß genau Bescheid, ich habe auch einen deutschen Blutsbruder.« Der Arzt horchte Jens ab und machte ein bedenkliches Gesicht. »Sein Herz stolpert noch ein wenig, das gefällt mir nicht. Aber ich möchte die Medikamente nicht erhöhen. Wir warten erstmal die Bluttransfusion ab. Wenn Ihr Freund weiß, dass sie hier sind, wird das auch bei der Genesung helfen.«

Krischan fragte ihn: »Woher können Sie so gut Deutsch sprechen?«

»Ich habe in Heidelberg studiert. Ich denke immer gerne an Deutschland zurück. Deswegen schäme ich mich für meine Landsleute, die Ihrem Freund das angetan haben. Wie es jedoch geschehen ist, weiß ich nicht. Die Kollegen Ihres Freundes können sicher mehr dazu sagen. Sie besuchen ihn jeden Tag, obwohl er nicht ansprechbar ist. Wenn er mal kurz wach ist, fragt er nach ›Krischan‹. Aber jetzt wo sie hier sind, wird alles gut werden.«

Mit diesen Worten gab er Krischan etwas mehr Zuversicht. Mit seinem Blut und seiner Kraft würde Jens wieder gesund werden; dieser Gedanke verdrängte die anfänglichen Befürchtungen. Er atmete tief durch und spürte, dass wieder Ruhe in seine Gefühle kam.

Kurz danach kamen ein stämmiger, großer Kerl und ein junger Mann, lang und dünn, fast noch ein Junge. Wie sich herausstellte, waren es der Koch und der Schiffsjunge, der erst seit ein paar Monaten an Bord war. Der Koch stellte sich vor: »Freddy, und das ist Jan, unser ›Küken‹«, dabei wies er auf den Schlacks.

Der machte ein Gesicht, als ob er gleich weinen würde. Er stotterte, »Ich habe Schuld, immer wenn ich dabei bin, passiert etwas. Ich hatte im Hafen die Bekanntmachung gesehen, und ich weiß, dass sich der Funker für Boxen interessiert. Eigentlich wollte er gar nicht von Bord. Aber ich habe solange geredet, bis er sagte: ›Naja, dann lass uns mal gehen, alleine können wir das Küken sowieso nicht gehen lassen‹.«

Der Koch und Jens hatten über ihn ihre schützenden Hände gehalten, denn er zog das Pech geradezu magisch an. Jens hatte wohl an ihre eigene schwere Anfangszeit gedacht, da hatte der Maschinist ihnen viel geholfen.

Jetzt erzählte der Koch weiter, denn dem Küken saß ein Kloß im Hals. »Wir sind dann mit dem Taxi zum Boxen gefahren und haben uns drei geschlossene Flaschen Bier gekauft. Alles, was geöffnet ist, darfst du nicht nehmen, man weiß nie, was die für ›Pisse‹ in die Flaschen gefüllt haben. Unsere Plätze waren ziemlich in der Mitte.

›Besser wäre hinten«, sagte Jens und zum Küken. ›Spring bloß nicht so viel rum, bei deiner Länge können die Hintermänner überhaupt nichts sehen. Und die haben gewettet, da geht es um viel Geld.‹ Die ersten beiden Kämpfe waren so lala, wir überlegten schon ob wir wieder gehen sollten. Denn für eine Meisterschaft war das eher lahmarschig.

Aber dann kamen die mit richtigem Zunder in den Fäusten und Beinen. Da ging es richtig zur Sache. Die Menge geriet aus dem Häuschen, ein Geschrei um uns herum. Alle hatten wohl auf den Favoriten gesetzt und trieben ihn laut an. Sein Gegner aber kämpfte zäh und schnell, aber er blutete schon an der Augenbraue.

Als er das nächste Mal zu Boden ging, sprang Jan auf und feuerte ihn an. Er schrie, er solle wieder aufstehen, und das auf Deutsch. Keiner konnte ihn verstehen, dafür war es viel zu laut, aber er sprang hin und her und fuchtelte mit den Armen.Seinen Hintermännern hatte er komplett die Sicht auf den Kampf genommen. Zuerst haben sie ihn nur heftig gestoßen, er sollte sich wieder hinsetzen. Aber Jan hat völlig falsch reagiert. Er hat sich zu ihnen umgedreht und noch etwas gesagt. Da haben sie ihm zu zweit welche reingehauen. Einer schlug immer wieder in die Nierengegend. Der Andere stand auf seinem Stuhl und haute ihm die Faust in die Fresse. Jens und ich waren inzwischen auch aufgestanden, wir wollten ihn da wegziehen. Wir wollten nur noch weg, aber Jan hat nicht reagiert. Wahrscheinlich war er schon benebelt, so wie die ihn traktiert hatten. Nun waren da drei Hindernisse, ich konnte Jan dann runterdrücken und versuchte, ihn da rauszuziehen. Jens versuchte, die Angreifer, die immer noch auf Jan einschlugen, in Schach zu halten. Einige Boxhiebe konnte er noch landen, aber dann haben zwei andere mit Messern zugestochen…«

Der Koch musste seine Schilderung einen Moment unterbrechen. Zu sehr stand ihm das Geschehen noch vor Augen. »Blut, überall Blut, schrecklich viel Blut, viel Geschrei und Geschiebe«, erzählte er weiter. »Wenn wir nicht von anderen Chinesen Hilfe bekommen hätten, wäre Jens auf jeden Fall tot. Die mit den Messern waren im Blutrausch. Sie waren selbst von oben bis unten mit Blut besudelt. So hatte das Blut gespritzt. Gott sei Dank waren Krankenwagen vor Ort, darum kamen wir schnell ins Hospital. Ich habe dem Fahrer gleich viel Geld gegeben, damit er uns in das beste Krankenhaus bringt. Und gleich als Privatpatient, so sind wir bei Doktor Jo gelandet, der ihn sofort operiert hat. Er hat alles für Jens getan. Er hat in Heidelberg studiert und spricht prima Deutsch.«

»Ja, ich weiß«, sagte Krischan, »Er hat es mir erzählt. Das ist wirklich ein Glücksfall.«

Das Schicksal geht oft seltsame Wege, dachte Krischan. In Heidelberg studiert, als Arzt in Shanghai und rettet im fernen China einem Deutschen das Leben. Fast wie geplant.

»Wir müssen abwarten, wie es mit Jens weitergeht. Ich bin froh, dass ihr euch um alles gekümmert habt«, erklärte Krischan.

»Der Konsul hat auch hereingeschaut«, erzählte Freddy. »Aber Jens war noch im Koma. Der wollte noch zur Polizei, denn die Angreifer wurden nicht gefasst. Die sind im allgemeinen Durcheinander abgehauen. Die Polizisten meinten, wenn eine Belohnung ausgesetzt würde, würden sich bestimmt einige erinnern. Die meisten kennen sich untereinander. Aber so eine Zusatzeinnahme bringt manchen zum Singen. Denn so ein Blutbad an einem Ausländer mögen sie hier gar nicht, das bringt viel zu viel Unruhe. Andauernd Kontrollen und vielleicht mal die eine oder andere Verhaftung, das will hier keiner. Vor allen die illegalen Buchmacher haben eine Stinkwut. Der Konsul versprach, sich um die Belohnung zu kümmern.« Der Koch tupfte sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. »So«, sagte er, »nun wissen sie alles, Kapitän. Wir gehen jetzt wieder zurück auf das Schiff. Morgen laufen wir wieder aus. Die Arbeiten am Schiff sind fertig und ein anderer Funker ist auch schon eingetroffen.«

Dem »Küken Jan« liefen die ganze Zeit die Tränen runter. Zwischendurch schniefte er laut. Sie hatten sich im Flur eine ruhige Ecke gesucht, damit sie Krischan alles ausführlich berichten konnten. Aber Jan brachte kein Wort mehr heraus. Bei der Erzählung des Kochs muss ihm alles wieder vor Augen gestanden haben.

Der Koch sagte jetzt unwirsch: »Nun hör auf zu heulen, das ändert auch nichts mehr. Jetzt, wo der Käptn da ist, wird alles gut.«

Dann verabschiedeten sie sich und wünschten für Jens alles Gute und er soll sich mal melden.

»Und für euch immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel«, wünschte Krischan. »Vielleicht bin ich ja bald euer Kapitän?«

»Wir haben schon so etwas läuten hören«, sagte der Koch. »Wir würden uns freuen.« Damit gingen sie zum Ausgang.

Krischan stand sinnend am Fenster und dachte: Das ist typisch für Jens, immer für die anderen da sein. Wie oft hat er mir aus der Patsche geholfen, als wir noch zusammen fuhren. Ich immer voran mit meiner frechen Klappe. In Südamerika sind wir oft mit dem blauen Auge davongekommen. Einmal nur der falschen Frau zugelächelt und die Männer gehen ab wie die Stiere. Meistens habe ich ja gelächelt, dachte Krischan, und Jens hat uns rausgehauen. Manchmal mussten wir sehr schnell rennen. Zum Glück waren wir immer sportlich und die Männer nicht so wütend, dass sie uns unbedingt kriegen wollten. Aber in einem »Hexenkessel«, wie beim Kickboxen, hat man keine Chance wegzurennen.

Die kleine Krankenschwester kam eilig auf ihn zu und zog ihn Richtung Jens Zimmer. Sie plapperte wieder auf ihn ein, aber strahlte dabei. Ein paar englische Brocken kannte sie und er verstand: »Friend better« und »look«. Jens hatte die Augen geöffnet, als er Krischan sah, blinzelte er, als wenn er es nicht glauben konnte.

»Oh, Krischan«, kam ein schwacher Stoßseufzer und es war, als sei ein Haufen Steine von seinem Herzen gepoltert.

Die Schwester freute sich mit ihnen und klatschte ein paar Mal leise in die Hände. Dann verließ sie still das Zimmer. Es hatte den Anschein, als ob alle um Jens gebangt und für ihn gebetet hatten. Krischan nahm vorsichtig Jens Hände. Eine Zentnerlast fiel von ihm ab, die innere Rührung trieb ihm das Wasser in die Augen.

Gewollt burschikos sagte er: »So, du bekommst jetzt mein Blut und wehe, du bist hinterher nicht sofort gesund, dann Gnade dir Gott.«

Jens lächelte etwas schief. Immerhin ein Anfang, dachte Krischan. Er bemerkte, dass Jens etwas sagen wollte, aber es kam nur ein Krächzen. Er befeuchtete die Lippen von Jens und den Mundinnenraum und sagte dabei: »Halt du mal schön die Klappe, ich weiß sowieso schon alles. Wahrscheinlich hast du nur die Hälfte mitbekommen, bei deinem Zustand. Ich will dich so schnell wie möglich nach Hause bringen, auch wenn die hier alle sehr nett sind. Der Arzt, der dich operiert hat, spricht sogar Deutsch, du hattest wirklich einen Riesendusel.«

Jens drückte Krischan die Hände, sein Mund formte ein »Danke«, ohne jeden Ton. Dann schlief er wieder ein. Aber die Atemzüge waren schon viel gleichmäßiger. Die nächste Zeit wich Krischan nur von Jens Seite, wenn es unvermeindlich war.

Er sprach mit dem Konsul, die Reederei hatte schon einen Riesenwirbel gemacht. Zusammen gingen sie noch einmal zur Polizei. Die Reederei hatte eine beachtliche Summe zur Belohnung ausgesetzt. Die Polizisten waren daraufhin ganz zuversichtlich, die Täter zu schnappen. Einen Tipp hatten sie schon bekommen. Wenn sich das mit der Belohnung rumsprechen würde, bekämen sie bestimmt noch mehr Hinweise. Ein Teil der Belohnung würde in den Taschen der Polizei verschwinden, das war allen klar. Aber damit lebte man hier, sie nennen es Guanxi.

Nach vier Wochen war Jens so weit stabil, dass sie nach Hause fliegen konnten. Die Reederei hatte alles arrangiert. Der Krankenwagen würde sie direkt bis an das Flugzeug bringen. Ein Arzt flog mit und in der ersten Klasse hatten sie alles so eingerichtet, dass Jens liegen konnte.

Rundherum hatte man alles mit Vorhängen abgeteilt, so dass eine kleine Extrakabine entstanden war. Der Flug verlief problemlos. Jens hatte eine Beruhigungsspritze bekommen und schlief fast die ganze Zeit.

Bei der Zwischenlandung passierte etwas Unglaubliches. Bis auf den Flugkapitän und den Chefsteward hatten alle das Flugzeug verlassen. Krischan, Jens und der Arzt waren in der ersten Klasse allein. Sie freuten sich über ein wenig frische Luft in der Kabine. Plötzlich ein wüstes Geschrei und Gepolter im Mittelteil des Flugzeugs. Sie hörten eine sehr hohe schrille Stimme immer wieder schreien: »Hands up.«

Der Arzt reagierte am schnellsten. Er setze Jens schnell eine Atemmaske auf, gab Krischan eine und stülpte sich selbst auch eine über. Dann nahm er eine Spritze und tat so, als wenn er Jens spritzen wollte. Draußen nur Geschrei. Es hörte sich so an, als ob jemand an die großen Blechcontainer schlagen würde. Zwischendurch meinten sie die Stimme des Kapitäns zu hören, der versuchte, beruhigend einzuwirken. Sie wussten nicht, wie viele Personen sie überfielen. Denn dass es ein Überfall war, daran gab es keine Zweifel. Keiner wagte den Kopf rauszustrecken.

Plötzlich steckte ein Bandit den Kopf durch den Vorhang und schrie los. Der Arzt hatte anscheinend nur darauf gewartet, denn er schrie laut »Danger!« und rammte dem Angreifer die Spritze in die Hand. Der machte einen Satz nach hinten, ließ seine Pistole fallen und heulte los. Krischan hinterher und hatte ihn schon im Schwitzkasten, als der Komplize kam.

Details

Seiten
Erscheinungsform
Originalausgabe
Jahr
2019
ISBN (ePUB)
9783948218034
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Enkelkinder Großeltern Freundschaft blutsbrüder Großfamilie Erbschaft Adoption

Autor

  • Rena Brauné (Autor:in)

Das Funkeln eines Schmuckstücks kommt oft aus einem kaum bemerkten Detail. Diese Erkenntnis hat Rena Brauné aus ihrem Beruf als Schmuckdesignerin in ihre Lust des Schreibens mitgenommen. In Portugal begann es, als sie und ihr Mann von der Schönheit eines abgelegenen Tals so begeistert waren, dass sie dort sechszehn Jahre ihrer Lebenszeit verbrachten. Hier entwickelte sich ihre Leidenschaft für das Schreiben. »In der Abgeschiedenheit der Natur, unter blauen Himmel, bekam meine Fantasie Flügel«, sagt sie. Dort erfuhr sie viel über den Wert der familiären Verbundenheit, die in diesem Buch zum Ausdruck kommt. Im Kadera-Verlag erschien außerdem von Rena Brauné: "Zuviel ist tödlich / Geschichten von der Schattenseite"
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Titel: Das Gesetz der Familie