Zusammenfassung
Autor Klaus J. Heyl ist der Ur-Ur-Enkel von Eduard Crüsemann. Der biografische Roman basiert auf Annalen der Familie und Recherche in Zeitdokumenten.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Über Eduard Crüsemann, und die Gründungsgeschichte des »Norddeutschen Lloyd« ist viel geschrieben und veröffentlicht worden. Die vielen Jahre mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen haben die Ereignisse in ihrer Darstellung in manchen Bereichen verzerrt. Einiges wurde vergessen, anderes hinzugefügt. Mal wurde über-, mal untertrieben. Unwahres mischte sich mit Halbwahrheiten. Die Geschichte zwinkert mit den Augen – es ist ja alles schon sooo lange her.
Als Ur-Ur-Enkel fühlte ich mich mit der Materie auf seltsam andere Weise verbunden. Kann es sein, dass mich ein paar unsterbliche Gene in meinem Herzblut in die Vergangenheit leiteten? Jedenfalls gingen diesem Buch leidenschaftliche und umfangreiche und zeitaufwändige Recherchen voraus, um eine möglichst zeitgenössische, reale und authentische Darstellung der handelnden Personen und Abläufe zu erreichen.
Wichtig war mir hierbei, die eigentlichen Ideen und Handlungen, die zur Gründung des »Norddeutschen Lloyd« geführt haben, den richtigen Personen zuzuordnen. Da Eduard Crüsemanns Erfahrungen und Kenntnisse unmittelbar in die Gründungsgeschichte des »Lloyd« eingeflossen sind, schien mir sein »Vorleben« von großer Bedeutung zu sein, denn das ist die Keimzelle der zum Weltunternehmen wachsenden Idee.
Ging ich anfangs davon aus, Eduard Crüsemann als Gründungs- Direktor unter Konsul Hermann Henrich Meier zu verstehen, war mir bald klar, dass er »in seinen zwölf Jahren« eindeutig Macher und Motor des »Lloyd« war.
Durch die vielen Ämter und Ehrenämter von Hermann Henrich Meier wäre es anders gar nicht möglich gewesen. Neben dessen Tätigkeit als Vorsitzender des Verwaltungsrats, war er Schwedischer und Norwegischer Konsul, aktiv in der Bremer Bürgerschaft tätig und später Abgeordneter des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reichstages. Außerdem Mitbegründer und erster Vorsitzender der Deutschen Lebensrettungs-Gesellschaft.
Die Gründung des »Norddeutschen Lloyd« ist allein einer glücklichen Fügung zu verdanken. Zwei Männer, die sich ausgezeichnet ergänzten und vom Wesen und Können her sympathisch waren, lernten sich zum richtigen Zeitpunkt kennen. Diesen Zeitpunkt hat das Schicksal gefunden, als es zwei Lebenswege miteinander verband. Weder Konsul Hermann Henrich Meier noch Eduard Crüsemann hätte allein die Ideen, Träume und Möglichkeiten in die Wirklichkeit umsetzen und eine Gesellschaft dieser Größenordnung aufbauen können.
***
Der in der Hauptsache von Eduard Crüsemann geführte »Norddeutsche Lloyd« wuchs nach seinem Tode – nicht zuletzt durch seine vorausschauende Weichenstellung – in rasantem Tempo weiter, und wurde zeitweise zur größten, schnellsten und modernsten Schifffahrtslinie der Welt.
Erst die beiden Weltkriege bremsten das Wachstum des »Lloyd«. Der unerschütterliche Wille zum Erfolg sorgte jedoch stets für einen schnellen Neubeginn.
Das Gleiche galt für den fast über ein Jahrhundert bestehenden Hauptkonkurrenten des »Lloyd«, die »Hapag« in Hamburg.
1970 schlossen diese beiden großen Reedereien eine »Vernunftehe « und betreiben ihre Geschäfte unter dem Namen »Hapag-Lloyd« seit dieser Zeit gemeinsam. Die Gesellschaft gehört auch heute wieder zu den Reederei- und Logistikkonzernen der Weltspitze.
Klaus-Jürgen Heyl
Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, all Erden Weh und all ihr Glück zu tragen. Mit Stürmen mich herumzuschlagen und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.
Johann Wolfgang von Goethe
Juni 1848
Seit Tagen war es heiß in Bremen – viel zu heiß. Die Stadt schien hinter zugeklappten Fensterläden eingeschlafen zu sein. Kein Windhauch trieb die Mittagshitze aus den Mauern.
In Zukunftsgedanken versunken schleppte sich Eduard Crüsemann gegen drei Uhr nachmittags am Roland-Denkmal vorbei über den staubigen Marktplatz. Er hoffte, am Weserufer mehr Abkühlung für einen klaren Kopf zu bekommen.
Dort flirrte die stickig-heiße Luft über dem Wasser. Im Schatten des Uferschilfs fand er einen großen Stein zum Rasten. Er lockerte die Halsbinde und legte den langen Gehrock und die cremefarbene Weste ab. Dann ließ er seine Gedanken mit den trägen Wellen in Richtung Nordsee treiben – dort, wo die weite Welt beginnt.
Gleich nach seiner Lehrzeit bei Klemme Bankiers in Berlin war er nach Bremen gezogen und hatte dort die Bürgerrechte für sich beantragt. Die alte Hansestadt mit dem Hafen, den Segelschiffen und dem Duft der weiten Welt hatte seine Leidenschaft geweckt.
Fast zwei Jahre arbeitete er als Volontär bei dem Kaufmann und Reeder Heinrich von Fischer. Die Nähe zum Hafen, die Kontakte zu Kaufleuten und Reedern aus den verschiedensten Teilen Europas und Amerikas, sowie der damit verbundene Warenumschlag faszinierten ihn. Kein Zweifel, er hatte viel hinzugelernt und Neues schnell erfasst. Die Banklehre vertrug sich vorteilhaft mit dem Kaufmännischen und dies wiederum mit der Seefahrt.
Eduard Crüsemann fühlte sich mit seinen 22 Jahren gefestigt genug, bald auf eigenen Füßen zu stehen. Es galt, die Fülle der Ideen, die ihm durch den Kopf schwirrten, in eine Ordnung zu bringen und daraus ein tragbares Fundament für sein eigenes Unternehmen entstehen zu lassen. Der vertrauensvollste Berater hierfür war sein Vater in Berlin, mit dem er eine intensive Korrespondenz pflegte.
***
Der Großkaufmann Conrad Crüsemann hatte sich im Laufe seines Lebens in Europa als bedeutendster Importeur für Seidenstoffe etabliert, mit besten Kontakten nach China, Indien und Persien. Wie nahe hätte es gelegen, dass sein Filius in diese Handelsgesellschaft einstieg und als Familienunternehmen fortführte. Doch er spürte mit väterlichem Stolz, dass Sohn Eduard es ihm gleichtun würde und seinen eigenen Erfolgsweg anstrebte. Er lenkte nur behutsam, was ihm wichtig erschien. So kam es nicht von ungefähr, dass er seinem Sohn auf einem prachtvollen Berliner Ball Henriette Böhm als Tochter eines Geschäftsfreundes vorstellte.
Zwischen Eduard und Henriette hatte es sofort geknistert. Sie tanzten die ganze Nacht hindurch und hatten sich unendlich viel zu erzählen. Hinzu kam, dass beide Elternpaare miteinander bekannt waren und sich mehr und mehr in ihre eigene Konversation vertieften. So fiel nicht auf, dass die jungen Leute es mit der Etikette nicht ganz so genau nahmen, wie es sich geschickt hätte.
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Die Erinnerung zauberte ein Lächeln in Eduards Gesicht. Ja, Henriette war ohne Zweifel sein wichtigster Grund, Zukunftspläne zu entwickeln. Sein Ziel war, sie so schnell wie möglich zu heiraten. Dazu aber gehörte, ihr ein Leben zu bieten, das ihren Kreisen entsprach. Ein eigenes mit der Seefahrt verbundenes Handelsunternehmen – das wäre so ein standesgemäßer Start in die Ehe. Ständig notierte Eduard Ideen für die Zukunft. Und damit sie ihm nicht in der Sommerhitze verdampften, zog er einen Zettel aus der Tasche des Gehrocks und kramte nach einem Bleistift.
Er erschrak, als eine heisere Stimme hinter ihm Unverständliches krächzte. Er drehte sich um und starrte auf ein langes Messer, das ihm eine ausgemergelte, in dreckige Lumpen gehüllte Gestalt entgegenhielt.
»Geld!«, keuchte der Lump. »Geld her!«
Eduard erkannte sofort, dass ihm keine Wahl blieb. Schweigend griff er in seine Geldbörse. Er hatte sonst nie großes Geld bei sich, doch ausgerechnet heute hatte er mehr eingesteckt, um auf dem Rückweg Einkäufe zu erledigen. So kramte er einige Bremer Kupferschwaren und eine Silbergrote 1) hervor, um den Strauchdieb zu befriedigen.
Der aber schien bemerkt zu haben, dass da mehr zu holen war. Mit einem blitzschnellen Fausthieb an die Schläfe schickte er Eduard ins Reich der Träume, griff sich die Geldbörse und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
Die Welt schien sich zu drehen, als Eduard wieder zu sich kam. Er registrierte sofort, dass er seines Wochenverdienstes beraubt war. Laut fluchend und schwindlig vom rasenden Kopfschmerz machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung im Wandrahm 21. Die Beschließerin war nicht in ihrer Loge, sodass er ohne seinen Zustand erklären zu müssen über die Stiege in die erste Etage gelangte.
Er tränkte ein Tuch in der Wasserschüssel und drückte es auf die Schläfe. Das milderte den Schmerz, und langsam kehrten seine Sinne zurück.
Ob es dann der Schlag oder die wohltätige Kühlung war, es schien ihm, dass sich seine Denkfähigkeit erhöht hatte. So griff er zu Feder und Papier und füllte drei Stunden lang etliche Blätter mit Geistesblitzen und durchdachten Details. Auch kaufmännische Risiken und bürokratische Hemmnisse waren einkalkuliert. Eduard war von seinem Konzept überzeugter denn je und strich sich zufrieden über den Backenbart, – sollte er dem Tagedieb für den hinterhältigen Fausthieb etwa dankbar sein?
Spät in der Nacht schrieb er seiner geliebten Henriette einen langen Brief, um ihn am frühen Morgen der Postkutsche nach Berlin mitzugeben. Ausführlich berichtete er von seinen Plänen. Den Überfall verschwieg er – er wollte keine unnötigen Sorgen hervorrufen.
***
Für Eduard Crüsemann war es jetzt an der Zeit, seine Unternehmensplanung in die Tat umzusetzen. Nach dem schmerzvollen Verlust seiner geliebten Großmutter hatte er eine erkleckliche Summe Goldthaler und drei Zinshäuser in Berlin geerbt. Dieses Vermögen kam ihm als Gründungs-Investition durchaus recht – und sicher wäre es im Sinne der Großmutter gewesen, es zukunftsgerecht zu verwenden.
Über zwei Jahre war es her, dass er sich in Berlin von Henriette mit den Worten verabschiedet hatte: »Es macht mein Herz schwer, dich zu verlassen, liebe Henriette. Ich werde dir ein sorgenfreies Leben bieten. Dafür lerne ich. In zwei bis drei Jahren bitte ich dich, meine Frau zu werden – in der innigen Hoffnung, dass du auf mich wartest!«
Und während sich Henriette errötend die Tränen aus den Augen wischte, flüsterte sie: »Ja, ich werde warten, Eduard. Voller Sehnsucht.«
Das war sein wichtigster Antrieb in der vergangenen Zeit. Und mit jedem Brief wuchs ihre Liebe zueinander und drängte auf Erfüllung.
***
Als sich das Volontariat bei Heinrich von Fischer dem Ende näherte, hatte Eduard den Lehrmeister in seine Pläne eingeweiht. Dem bedeutete das keine Überraschung, denn er hatte seit langem bemerkt, dass in Eduard ein kaufmännischer Geist steckte. Er bescheinigte seinem Volontär große Zufriedenheit mit dessen Auffassungsgabe, dem gefälligen Wesen und der Verbindlichkeit, mit der er Mitarbeiter, Kunden und Geschäftspartner für sich gewann. Daher bot er ihm für die Gründungsphase großzügige Hilfe an und lud ihn zu einem Essen in seine Villa am Wall ein, um Details seiner Pläne mit ihm durchzusprechen.
Eduard erkannte daraus, dass es seinem Lehrmeister vor allem darum ging, dass ihm sein gelehriger Volontär nicht als Konkurrent in die Quere kommen sollte. Doch der Umgang mit der Konkurrenz zählte zur Erfahrung der Älteren, von der Eduard profitieren wollte.
Bürgertum und neue Zeiten
Heinrich von Fischer hatte einen Lehrjungen gebeten, zwei Humpen Bremer Bier zu holen. »Das tut gut nach einem langen Arbeitstag«, sagte er und nickte Eduard zu.
»Wir haben in Bremen ein problematisches Großbürgertum«, erklärte er nach dem ersten Schluck. »Dieser Zirkel besteht aus alteingesessenen Kaufleuten, Reedern, Großgrundbesitzern und Senatsmitgliedern mit ihren Familien. Diese elitäre Gruppe der Bremer Gesellschaft ist zusammengeschlossen in der ›Bremischen Commercialen Gesellschaft‹. Zum einen ist sie sehr konservativ und vorsichtig, zum anderen wacht sie eifersüchtig darüber, dass kein außenstehender Emporkömmling ihre Kreise stört. Moderne Ideen wirtschaftlicher oder politischer Natur sind ihr nur mühsam zu vermitteln. Bevorzugt werden Geschäfte untereinander oder mit Geschäftspartnern aus dem Ausland. Wenn die Bankkonten stimmen, sieht niemand einen Grund dafür, etwas zu verbessern!« Von Fischer grinste Eduard freundlich an. »Unterprivilegierte oder Zugereiste wie Sie, lieber Crüsemann, haben bei diesen gottähnlichen Wesen einen schweren Stand!«
»Wie wohl jeder, der sich den Herausforderungen unserer Zeit stellen will«, antwortete Eduard. »Es ist meine Zukunft. Ihr bin ich mehr verpflichtet als denen, die im Gestern leben.«
»Große Worte, lieber Crüsemann. So ist es: Wenn die Welt ruft, muss man handeln!« Heinrich von Fischer sann einen Augenblick in sich hinein. »Aber unsere Gesellschaft sonnt sich im Erreichten, sie will sich nicht in Visionen verrennen.«
Diese Verhaltensweise und Gruppenbildung kannte Eduard aus Berlin nicht. Bei Hofe mochte das anders sein. Im vermögenden Großbürgertum, zu dem seine Familie gehörte, galt eine tolerante Offenheit gegenüber Ansichten und Menschen anderer Herkunft und Stände.
»Diese konservative Grundhaltung ist mir bereits aufgefallen. Wenn Sie mich zu einigen der großen Bremer Handelshäuser schickten, stand ich oft einer reservierten Ablehnung gegenüber«, gestand Eduard seinem Lehrmeister. Obwohl der diesem elitären Bremer Kreis selbst angehörte, war er weltoffen und aufgeschlossen genug, begabte Leute aus anderen Städten oder Ständen zu beschäftigen. Das war es, weshalb Eduard bei ihm in der Lehre war.
In dieser Epoche gewaltiger Veränderungen durch die Industrialisierung mit der Dampfmaschine, der Erfindung der Dampfschiffe und der Eisenbahn, verhielt sich die allgemeine Bremer Kaufmannschaft mit Neuerungen zurückhaltend. Selbst politische oder kriegerische Unruhen, die weite Kreise der Bevölkerung ins Elend stürzten, nahm dieser illustre Zirkel kaum zur Kenntnis. Die dadurch entstehende Welle von Auswanderungswilligen nach Nord- und Südamerika, vor allem aus Süddeutschland, wurde in Bremen bisher kaum wahrgenommen.
Derweil erfreute dies die Engländer, die mit Auswanderer- Schiffspassagen nach Amerika viel Geld verdienten. Dies hatte Eduard Crüsemann seit langem bemerkt und es im Gründungskonzept für seines eigenen Unternehmens deutlich berücksichtigt.
Als die Dame des Hauses beim Verabschieden des Gastes zu fragen wagte, ob es denn eine Auserwählte an seiner Seite gäbe, antwortete Eduard stolz: »Sobald meine Firma gefestigt ist, werde ich meine Henriette heiraten und von Berlin nach Bremen holen. Ich gestehe Ihnen gern, dass dies eine antreibende Kraftquelle für mein Vorhaben ist.«
Selbstständig – jetzt wird es ernst
Am letzten Tag des Volontariats hatte Heinrich von Fischer Eduard Crüsemann in sein Besprechungszimmer gebeten. Er schenkte ihm englischen Brandy ein und hob zu einer feierlichen Rede an: »Mein lieber Crüsemann, wir kennen uns jetzt seit zwei Jahren und ich bin in dieser Zeit mit Ihnen stets zufrieden gewesen. Sie haben bei mir nicht nur selbst Wichtiges über den Handel gelernt, Sie waren auch für mein Haus eine wirkliche Bereicherung. Gern würde ich weiterhin mit Ihnen arbeiten, aber ich verstehe Ihre Pläne und werde Ihnen keine Steine in den Weg legen!« Wohlwollend hob er sein Glas und prostete Eduard zu.
»Ich hätte keinen besseren Lehrmeister finden können!«, antwortete Eduard gerührt.
»Darf ich neugierig sein?«, fuhr von Fischer fort. »Wie steht es jetzt mit Ihrer Unternehmensgründung? Wie gehen Sie es an?«
»Zunächst suche ich Kontorräume, um eine ordentliche Adresse zu haben, dann lasse ich Geschäftspapiere drucken. Und ich werde mich um Kunden bemühen. Akquise in Bremen, dem Königreich Hannover, Berlin und auch in England. Mein Vater versprach mir, einen großen Teil seiner Waren über mein Unternehmen zu transportieren. Das ist mein solider Grundstock.«
Heinrich von Fischer nickte zustimmend. »Mein lieber Crüsemann, auch ich bin Ihnen gern behilflich. Ein geschätzter Geschäftspartner von mir ist vor kurzem verstorben. Der alte Carl Schwerdtfeger, ein Gewürzhändler. Seine Witwe will jetzt die Kontor- und Lagerräume am Weserhafen veräußern. Wäre das etwas für Sie?«
Eduards Augen leuchteten: »Ich kenne die Adresse, sie ist fantastisch!«
»Dann sollten wir nicht lange warten. Ich habe dort Zugang und zeige Ihnen die Räume sofort, bevor ein anderer überhaupt davon erfährt. Kommen Sie!«
Die Lagerräume waren bereits geräumt, doch in den Wänden hing noch der Duft orientalischer Gewürze wie ein Gruß aus fernen Welten. Eduard atmete tief durch. Als sie anschließend im Nachbargebäude die Kontorräume betraten, pochte sein Herz bis zum Hals. Er trat ans Fenster und genoss den Blick auf die Weser mit dem Kai und den Ladekränen. Vor einem Segelschoner, der mit allerlei Säcken beladen wurde, herrschte geschäftiges Treiben.
»Das habe ich mir nicht in meinen kühnsten Träumen vorgestellt! «, gestand Eduard und seufzte dann: »Und bei den Träumen wird es bleiben, Herr von Fischer. Ich denke, dass es meine finanziellen Möglichkeiten übersteigen wird. Mein Beginn wird bescheidener sein!«
Väterlich legte von Fischer seinem eben noch besten Volontär eine Hand auf die Schulter. »Die Witwe Schwerdtfeger hat keine Erben. Sie ist fast siebzig und ihr Wunsch ist es, die ihr verbleibenden Jahre sorglos zu leben. Die Hälfte des Wertes und eine kleine Rente auf Lebenszeit – ich meine ...« Weiter kam er nicht, denn Eduard hatte blitzartig verstanden, dass dies eine Chance war, die es nicht zweimal gab.
»Ich mach’s!«, rief er, ohne den realen Preis zu kennen. »Sofort!« Fast wäre er seinem Lehrmeister um den Hals gefallen, doch beherrscht streckte er ihm nach Kaufmannsart die Hand entgegen. »Sie haben mein Wort. Bitte berichten Sie es der Witwe Schwertfeger. – Am Weserufer 10, ist das nicht ein gutes Omen, Herr von Fischer?«
Der erfahrene Kaufmann und Reeder lächelte: »Das ist eine Adresse, die ein klug handelnder Unternehmer verdient hat. Einer wie Sie, mein lieber Crüsemann!«
***
Acht Tage später saß Eduard zusammen mit der Witwe Schwerdtfeger bei dem ehrwürdigen Notar Holthusen und unterzeichnete den Kaufvertrag. Die Witwe rutsche mit hochrotem Gesicht auf ihrem Stuhl hin und her, als Eduard ihr den Preis in Goldthalern vorzählte.
Mit einem »Herzlichen Glückwunsch« vom Notar war die Kaufzeremonie beendet. Ein Commis 2) des Notariats begleitete die Witwe sicher nach Hause.
Eduard hatte es eilig, um sofort in einem Brief an seinen Vater vom Kauf und der ersten Adresse am Hafen zu berichten. Er schrieb auf dem Geschäftspapier, das er schon vier Tage vor dem Kauf drucken ließ. Nichts ging ihm schnell genug. Jetzt sollte ein Tischler schleunigst die übernommene Kontoreinrichtung ergänzen.
***
Ungeduldig wartete Eduard dann drei Wochen, bis die beiden Schiffe, die er von anderen Reedern wohlfeil erwerben konnte, geliefert wurden und an seinem Kai festmachten. »Henriette« und »Charlottenburg« sollten die Segelschiffe heißen. Das sollte eine Überraschung für seine Herzallerliebste sein. Er war sich sicher: Ihr Name und der ihres Geburtsortes würden dem jungen Unternehmen Glück bringen.
Der Zweimastschoner »Henriette« war bisher für den Holztransport auf der Unterelbe im Dienst. Jetzt plante Eduard, mit ihm Waren die Weser hinauf und hinunter zu transportieren und zwischendurch holländische Häfen anzulaufen.
Die Dreimastbark »Charlottenburg« hatte sich acht Jahre lang zwischen Bremen und verschiedenen holländischen Häfen bewährt und war in erstaunlich gepflegtem Zustand. Eduard hatte keine Bedenken, dieses Schiff für Waren und Passagiere im Liniendienst durch den Kanal zwischen Bremen und London einzusetzen, – so lange, bis die Geschäftserträge es erlaubten, eines der faszinierenden neuen Dampfschiffe bauen zu lassen.
Aufsehen erregte der neue Reeder in der Bremer Gesellschaft durch die Annonce in den »Bremer Nachrichten«, mit der er drei Damen und drei Herren für die Kontorarbeit suchte. Frauen im Kontor? Das gab es bisher nicht unter Bremer Reedern und Kaufleuten. Eduard hatte beobachtet, dass Frauen absolut fleißig waren, Arbeitsabläufe rationeller einschätzten als Männer und in ihrer diplomatischen Art zum Arbeitsfrieden beitrugen. Vorsichtshalber hatte er hierzu Herrn von Fischer befragt, ob er sich mit solchen Ansichten in der kritischen Bremer Gesellschaft unbeliebt machen würde.
Von Fischer machte ihm Mut. »Mein lieber Crüsemann, diese Idee finde ich hervorragend. Das entspricht absolut dem Zeitgeist. Sie haben recht damit, dass Frauen fleißiger sind – und was die alten Pfeffersäcke dazu sagen, das sollte Sie nicht kümmern. Die Zeit wird Ihnen recht geben, in einigen Jahren werden auch in Bremen überall Frauen die Kontore verschönern! «, lachte er verschmitzt.
Das beruhigte Eduard. Er suchte außerdem ja einen Herrn als Kontorvorsteher sowie drei Lagerarbeiter.
Die Schiffsbesatzung beabsichtigte er direkt im Hafen bei den Seeleuten zu rekrutieren. Dort gab es immer Heuermänner. Im Gespräch mit ihnen ließ sich schnell feststellen, welche Erfahrungen sie mit an Bord brächten.
Im Lager stapelten sich bereits Seidenballen, die Conrad Crüsemann zur Verschiffung nach Emden und London angeliefert hatte. Eine Schiffsladung Holz aus Schweden war ange-kommen. Es sollte der erste Auftrag für die »Henriette« werden, die auf Grund ihres geringen Tiefgangs stromauf nach Minden und sogar darüber hinaus nach Karlshafen schippern konnte. Nur das Schiff war noch nicht eingetroffen.
Eduard war in Gedanken vertieft, als ein Pferdefuhrwerk heranrumpelte, um ein großes Firmenschild anzuliefern. Darauf stand auf dunkelgrünem Grund in goldenen Lettern:
EDUARD CRÜSEMANN
Reederei & Handelscompagnie
Mit Stolz schaute er der Montage zu. Was kann einem Unternehmen Besseres passieren, als schon Aufträge zu haben, bevor der Name am Haus steht.
Er hatte in diesen Tagen vom frühen Morgen bis spät in die Nacht gearbeitet, um Geschäftskontakte zu knüpfen oder Personalgespräche mit zahlreichen Bewerbern zu führen. Drei Lagerarbeiter und drei engagierte junge Damen für das Kontor und ihnen zur Seite drei männliche Commis hatte er eingestellt. Er war mit seiner Wahl zufrieden. Nur einen geeigneten Kontorvorsteher, dem er als seine ›rechte Hand‹ umfassende Vollmachten erteilen wollte, fand er bisher nicht. Den Bewerbern fehlte es an Seriosität und Wissen, einem wehte sogar eine Alkoholfahne voraus.
Ganz anders ein junger Mann, der sich kurz darauf als »Jacob Hansemann aus Berlin« vorstellte, was bei Eduard spontane Freude auslöste, denn ein preußischer Landsmann verirrte sich nur selten in die meerverbundene Hansestadt an der Westgrenze des Königreichs Hannover.
»Mein Vater hat in Berlin ein Ladengeschäft für feine Tuche und bezieht von Ihrem Vater regelmäßig Ware. Als ich vor einiger Zeit Stoffe bei Ihrem Vater abholte, kamen wir ins Gespräch. So erfuhr ich, dass Sie in Bremen ein Unternehmen gründen und dafür einen Bürovorsteher suchen. Diesen Posten habe ich seit drei Jahren bei einer Seifensiederei in Tempelhof inne!«, sprudelte es aus ihm hervor und nach kurzem Luftholen fuhr er fort: »Gern würde ich meinen beruflichen Horizont erweitern, zumal ich mich leidenschaftlich für die Seefahrt und Schiffe interessiere. So dachte ich mir: Jacob, reise nach Bremen und sprich bei Herrn Crüsemann vor!« Er strahlte Eduard an, als erwarte er jetzt dessen spontane Zustimmung.
Eduard erwiderte das Lächeln, den positiven Eindruck wollte er trotzdem in einem intensiven Gespräch über Ausbildung, Kontor- und Mitarbeiterführung überprüfen. »Das hört sich passabel an«, schloss er die Unterredung. »Da es sich um einen absoluten Vertrauensposten handelt, bitte ich um Ihr Verständnis, dass ich darüber einige Tage nachdenke. Ich werde mich in etwa einer Woche bei Ihnen melden!«
Es schien Eduard ratsam, durch seinen Vater Erkundigungen über Jacob Hansemann einzuholen. Mit der Abendkutsche schickte er eine Eildepesche nach Berlin. In diesem Moment fragte er sich, warum es keine Eisenbahn von Bremen nach Berlin gab, oder wenigstens von Bremen nach Hamburg. Hing auch das mit der Trägheit der »Bremischen Commercialen Gesellschaft« zusammen? War doch die Stadt an der Elbe schon seit 1846 mit Berlin verbunden!
Inzwischen war die »Henriette« eingetroffen. Zehn Schauerleute schufteten den ganzen Tag, um das Holz sicher auf dem Schoner zu verstauen. Mit innerem Stolz sah Eduard vom Kai aus zu – sein erstes Schiff! Mit Kapitän Kröger hatte er einen erfahrenen Seebär angeheuert, der nach langer Fahrenszeit an den Küsten jetzt mit der Flussschifffahrt nach geruhsamerer Fahrt verlangte. Am Abend meldete er: »Alles klar auf der ›Henriette‹. Früh um sechs schippern wir los. Wenn der Wind stabil bleibt, sind wir in drei Tagen in Minden!«
Die »Charlottenburg« lief zwei Tage später ein. Kapitän Ohlsen, ein schwedischer Fahrensmann, hatte die Bark gründlich überprüft und meinte: »Nix is so gut, dass man’s nich noch besser machen könnt. Die Nordsee is launisch, vor der englischen Küste heult der Wind, da zieh ich besser ein paar zusätzliche Wanten und Stage 3) ein. Außerdem Seile zur Sicherung der Ladung und an der Reling, damit die Passagiere nich außenbords rutschen, wenns auf See mal heftig wird!«
Am 14. September sollte die »Charlottenburg« zur ersten Fahrt nach London ablegen. Es blieben noch zehn Tage. Eduard wollte die erste London-Fahrt nutzen, um seine englischen Geschäftspartner persönlich kennenzulernen. Er nahm auf dieser Tour zwölf Passagiere an Bord, die in der ersten Decksklasse untergebracht wurden. Sie wollten mit der Cunard Line von Southampton aus nach Amerika auswandern. Ab Bremen war das bisher nur eingeschränkt möglich.
Durch die Tuchwaren von Conrad Crüsemann wurden die Ladeluken zum Großteil gefüllt. Die Seidenballen wurden in London und Birmingham erwartet. Kurz vor der Abfahrt packten die Schauerleute noch 100 Säcke Madagaskar-Pfeffer in die Luken. Das Schiff war bestens ausgelastet.
Ebenfalls rechtzeitig traf die Antwortdepesche aus Berlin ein: Vater Crüsemann gab eine zustimmende Bewertung zu Jacob Hansemann. Eduard stellte ihn daraufhin als Kontorvorsteher mit allen notwendigen Vollmachten ein. Jetzt war er sich sicher, während seiner Reisen einen zuverlässigen Vertreter zu haben.
***
Am Kai vor der »Charlottenburg« war lebhaftes Treiben. Die Decksjungen verstauten das Gepäck der Passagiere und Kapitän Ohlsens routinierte Kommandos ordneten das Handeln der Besatzung. Eduard erfüllte das große Gefühl, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Er packte so kräftig mit an, dass Käptn und Mannschaft sich wie im Wettbewerb mühten, schneller als er zu sein.
Die Schiffsglocke schlug vier Glasen, Kapitän Ohlsen gab das Kommando: »Bug- und Achterleinen los!« Zwei Stunde bis zum Wachwechsel, dann war Frühstückszeit.
Die Festmacher am Kai lösten die Tampen und während der Himmel im Osten heller wurde, glitt die »Charlottenburg« langsam in den Sog der Wesermitte. Der Wind stand günstig. Kapitän Ohlsen ließ das Großsegel setzen, um mehr Fahrt im Schiff zu haben, besser manövrieren zu können und Herr über die Strömung zu sein. Zur Mittagszeit wollte er das offene Meer erreichen. Eduard Crüsemann stand versonnen am Heck der voll beladenen Bark und schaute glücklich auf die Masten und Segel. Ein Gefühl des Erfolgs lief durch seinen Körper – es geht voran!
Die Überfahrt war behäbig und dauerte wegen ungünstiger Winde über fünf Tage. Einige Passagiere wurden trotz sanfter Dünung seekrank und opferten für Neptun. Andere verbrachten ihre Zeit tagsüber an Deck und genossen die Reise.
Kapitän Ohlsen hatte aus der angeheuerten Mannschaft schnell eine eingespielte Crew geformt, wie sie für ein Segelschiff unerlässlich war. In London angekommen, wurde der »Charlottenburg« ein Liegeplatz in den East India Docks zugewiesen, wo sie durch Wachposten und von hohen Mauern umgeben vor Überfällen durch Flusspiraten geschützt war.
Eduard hatte sich vorgenommen, die sechs Tage zwischen Löschen der Ladung und Aufnehmen neuer Fracht zu nutzen, um in England Geschäftskontakte zu knüpfen. Beim Besuch englischer Reedereien und Werften studierte er deren Arbeitsweise. Er konnte glücklicherweise Fracht für die Rückfahrt auftreiben: Mehrere Ballen feinsten englischen Tuchs, die für Bremen bestimmt waren.
Zuerst besuchte er die Handelshäuser, zu denen er schon Kontakte angebahnt hatte. Auf Grund seiner freundlichen und bescheidenen Art war er willkommen, wurde zum Lunch oder Dinner eingeladen, fachsimpelte angeregt mit seinen englischen Kollegen und erhielt Tipps zu Verbindungen mit anderen Kaufleuten und Reedern.
Am vierten Tag überraschte ihn eine Einladung in das Londoner Kontor der Cunard Reederei. Ein großer Name, denn diese neun Jahre zuvor gegründete kanadische Schifffahrtslinie hatte von der britischen Admiralität die Post- und Paketrechte für die Verschiffung nach Kanada erhalten und betrieb einen zweiwöchigen Liniendienst zwischen der alten und der neuen Welt. Von ihrem Heimathafen Southampton fuhren die Schiffe Boston, Halifax und Quebec an.
Auch das Passagiergeschäft entwickelte Samuel Cunard aus dem Bedarf heraus: Er transportierte den größten Teil der Auswanderer in drei Decksklassen von Europa nach Kanada. Die glücksuchenden Minderbemittelten waren in spartanisch engen Zwischendecks untergebracht, die Bessergestellten reisten in komfortablen Kabinen auf dem Oberdeck. Unter den Seefahrern sprach man nicht ohne Neid darüber: »Cunard verdient sich damit eine goldene Nase.«
Der vornehme Bürovorsteher vollzog die Vorstellung mit sparsamen Handbewegungen: »Eduard Crüsemann – Samuel Cunard.« Der kanadische Gründer der Gesellschaft, der zur Zeit in London weilte, war offenbar über den jungen Reeder vom Festland bestens unterrichtet worden. Cunard fachsimpelte mit seinem deutschen Kollegen über die zunehmende Industrialisierung, über Handelsströme und eine erweiterte Welt, insbesondere durch die Entwicklung der Schifffahrt. Schnell entwickelte sich Sympathie zueinander.
»Kommen Sie, ich lade Sie in meinen Club ein, da lässt es sich ungestörter reden!«, schlug Samuel Cunard vor. Bei einem edlen kanadischem Whisky erzählte er Eduard von seinem Einstieg in das Passagiergeschäft und hatte keine Bedenken, ihm das lukrative Geschäft im Detail und mit erhabener Selbstachtung zu erläutern. »Wir haben jetzt sogar die ersten Dampfschiffe im Liniendienst eingesetzt, dadurch sind wir deutlich schneller als alle anderen Reedereien und haben mehr Platz für Fracht und Passagiere.«
Eduard hörte aufmerksam zu und berichtete Samuel Cunard von den Anfängen seiner Compagnie. In diesem offenen Gespräch begann trotz des Alstersunterschieds eine von gegenseitiger Sympathie getragene private und geschäftliche Freundschaft.
Am letzten Tag besichtigte Eduard die Londoner Werft Huxley & Sons. Er war zu der Überzeugung gelangt, weitere Schiffe nicht mehr gebraucht zu kaufen, sondern nach seinen Wünschen bauen zu lassen. Zwar war er weit von der Erfüllung dieses Plans entfernt, doch persönliche Kontakte dafür zu haben, schien ihm von Vorteil zu sein. Denn diese Werft hatte bereits Erfahrungen mit Dampfschiffen, während andere noch die Segelflächen ihrer Schiffe vergrößerten.
Zurück in Bremen stellte Eduard zufrieden fest, dass seine Reise erfolgreich war. Er hatte Lieferkontrakte für mehrere Monate abgeschlossen, für Waren von England nach Bremen und umgekehrt. Außerdem hatte er Informationen über Reedereibetriebe und Handel in England gesammelt. Er hatte sich angewöhnt, die letzte Stunde des Tages darüber nachzudenken, was er aus seinen Erkenntnissen zukünftig verwerten und welche neuen Beziehungen und Freundschaften dabei hilfreich sein könnten.
Es war für ihn keine Frage mehr, dass das stetig zunehmende Auswanderungsbegehren nach Nord- und Südamerika ein ertragssicheres Geschäft darstellte. Es durfte nicht länger sein, dass er die Auswanderer nur als Zulieferer nach London und Southampton brachte, damit die Engländer das Hauptgeschäft erledigten!
Genauso lukrativ war das Verschiffen von Briefen und Paketen. Die Auswanderer sorgten auch dabei für beständig wachsenden Bedarf. Sobald er erfahren hatte, dass die Cunard Line allein hierfür jährlich über 80-Tausend englische Pfund kassierte, suchte er nach einer Möglichkeit, sich in diesem Markt zu platzieren.
Auf Freiersfüßen in Berlin
Nachdem die ersten Aufträge erfolgreich abgeschlossen waren und sich in seinem Unternehmen eine Alltagsroutine entwickelt hatte, reiste Eduard Crüsemann für zwei Wochen nach Berlin, um seine Eltern zu besuchen und die Pläne seines privaten Lebens zu gestalten.
Die vielen romantischen Briefe, die trotz aller Geschäftigkeit zwischen Bremen und Berlin hin und her gegangen waren, hatten die Sehnsucht zueinander stetig wachsen lassen, – jetzt lagen sich Eduard und Henriette endlich in den Armen. Und dann richtete sich Eduard vor Henriette in förmlicher Art stocksteif auf und trug seinen sorgsam eingeübten Heiratsantrag vor.
»Jaaa!«, jubelte Henriette in ihrer jugendlich-frischen Art.
Eduard war erleichtert, und jetzt gestand er seine Unsicherheit ein, bei dem Farbenfabrikanten Nicolaus Böhm, vor dem er ehrfürchtigen Respekt hatte, um die Hand seiner Tochter anzuhalten. »Meine liebe Henriette, ich fürchte, dass ich mich dabei nicht standesgemäß anstellen werde.«
Henriette lachte: »Das musst du auch nicht, Papps ist sehr lieb und wohlwollend!«
»Ja, aber bestimmt nicht zu jemandem, der ihm seine Tochter nach der Hochzeit nach Bremen entführen wird!«, befürchtete er mit düsterer Mine.
»Auch das ist keiner Sorge wert«, winkte Henriette ab. »Ich glaube, er erwartet es bereits, weil er weiß, dass es mich glücklich macht. Ich habe ihm ausführlich von dir erzählt. Er schätzt dich für deinen Wagemut, so jung schon ein solches Unternehmen zu gründen.«
Eduard atmete erleichtert auf. »Es wird unser Unternehmen sein«, sagte er und besiegelte es mit einem Kuss.
Am Abend fasste Eduard all seinen Mut zusammen und hielt offiziell bei Henriettes Vater um die Hand seiner Tochter an.
Nicolaus Böhm lächelte entgegenkommend, unterbrach dann den verlegen stotternden Eduard und antwortete in freundschaftlicher Art: »Junger Mann, die Bitte sei dir gewährt. Wir sehen ja, dass ihr euch liebt, unseren Segen habt ihr!« Er sah zu seiner Frau, die zustimmend nickte.
Eduard zog Henriette an sich: »Jetzt sind wir verlobt! Ganz offiziell.«
Glücklich sah sie zu ihm auf. »Ich werde dich nie mehr loslassen.«
»Moment, meine Lieben!«, sagte Nicolaus Böhm. »Lasst etwas für die Hochzeit übrig. Lasst uns jetzt mit einem Glas Wein auf das Kommende anstoßen.«
Später berichtete Eduard seinen Eltern erleichtert und beschwingt von seinem Antrag an Henriette und der Zustimmung ihrer Eltern.
»Dann hat unser Warten ja ein Ende«, meinte Eduards Mutter und tupfte ihre Augen mit einem Taschentuch. »Ihr beiden seid ein zauberhaftes Paar, man sieht, dass ihr euch gefunden habt.«
»Und darauf, dass ihr nach der Hochzeit in Bremen leben werdet, haben wir den alten Böhm schon vorbereitet«, ließ Conrad Crüsemann augenzwinkernd wissen, während er drei Gläser mit Wein füllte. »Möge dieses Ereignis eine glückliche Zukunft haben!«
»Henriette hat als Hochzeitstermin den 24. Juni 1849 vorgeschlagen. Es ist der Geburtstag ihrer Mutter, außerdem ist Sommer, dann werden wir im Garten feiern«, berichtete Eduard. »Ich bin mir sicher, dass dann die Sonne scheinen wird.«
Sein Vater lachte. »Optimismus ist das wichtigste Element für alle Vorhaben! Aber vergiss nicht, diese Hochzeit verlangt ein großes Arrangement. Beide Familien haben eine gesellschaftliche Stellung, die Verpflichtungen mit sich bringt.«
***
Am nächsten Morgen fuhr Eduard mit Henriette in der vor kurzem eröffneten Eisenbahn von Charlottenburg nach Spandau. Diese neue Art des Reisens begeisterte ihn. Dampf war jetzt die neue Antriebskraft. Dampfmaschinen erleichterten die Produktion in den Fabriken. Mit den Dampfschiffen über die Meere, mit den Dampfloks der Eisenbahn auf Schienen über Land. Dampf war das Zeichen des Aufbruchs in eine neue Zeit. Das Motto lautete: Volldampf voraus!
»Was meinst du, um wieviel schneller jedes Vorhaben gelingt, wenn wir statt mit Pferdefuhrwerken und Postkutschen mit der Eisenbahn von Stadt zu Stadt fahren«, schwärmte Eduard seiner Zukünftigen vor. »Eines Tages wird selbst zwischen Berlin und Bremen eine Eisenbahn fahren. Dann ist es, als rückten unsere Elternhäuser wieder in unsere Nähe.«
Chaos und Erfolg im Kontor
Wieder in Bremen fand Eduard im Kontor ein heftiges Durcheinander vor. Die vermutete Alltagsroutine war absolut nicht so gefestigt, wie er gehofft hatte. Angelieferte Waren standen unsortiert vor dem Lager. Die »Henriette« lag voll beladen am Kai und hatte keine Befugnis zum Auslaufen, weil die Ladepapiere fehlten.
Eine Ladung englischen Tuchs und einige Fässer indischer Gewürze sollten nach Amsterdam verschifft werden. Und im Kontor stritten Commis darüber, wer welche Aufgabe zu erledigen hatte. Von Jacob Hansemann war weit und breit nichts zu sehen.
»Der ist schon seit gestern Mittag verschwunden!«, empörte sich die Buchhalterin Fräulein Mühlenbek.
Eduard gab sich selbst die Schuld an diesem Chaos. Die Einarbeitungszeit des Kontorvorstehers vier Tage vor seiner Londonreise war nur zufällig ausreichend; inzwischen waren die Anforderungen gestiegen.
Jetzt kümmerte er sich selbst zuerst um die Frachtpapiere für die »Henriette«, rief dann seine Lagerarbeiter zu sich und sorgte dafür, dass die Waren geordnet im Lager verstaut wurden. All das waren Aufgaben des Kontorvorstehers.
Dann machte er sich auf den kurzen Weg zu Jacob Hansemann. Er hatte bei der Witwe Behnecke eine Kammer zur Miete und wurde von ihr mütterlich umsorgt. Am gestrigen Tag war die Witwe für eine Woche zu ihren Kindern nach Vegesack gefahren.
Eduard fand Jacob Hansemann stöhnend am Fuße der Treppe gleich hinter der Eingangstür vor. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah er zu Eduard auf.
»Was ist passiert?«, fragte Eduard erschrocken.
Jacob versuchte, seinen Körper zu bewegen – es misslang. »Bin gestolpert«, stöhnte er. »Wollte mittags zurück ins Kontor – diese verdammte Treppe – von oben bin ich hinuntergestürzt. Ich glaub, mein Fuß ist gebrochen – ich komme nicht hoch – hab verdammt große Schmerzen!« Er atmete ein paarmal tief durch für den nächsten Satz: »Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihnen solche Ungelegenheiten bereite.«
Eduard musste handeln. »Ich hole den Medicus, dass er den Fuß richtet. Gedulde dich ein wenig!«
Ein schmerzhaftes Lächeln zuckte über Jacobs Gesicht. »Geduld? Die habe ich seit zwanzig Stunden nicht. Aber jetzt bin ich froh, dass Sie da sind.«
Da war Eduard schon fort – und nach kaum einer halben Stunde kam er mit Dr. Brockmann zurück. Zwei Stunden später war Jacob versorgt und hatte eine stramme Bandage mit hölzernen Stäben an Bein und Fuß. Mit Hilfe von Eduard und Dr. Brockmann schaffte er damit die Treppe aufwärts in seine Kammer.
Eduard servierte ihm dort ein spätes Frühstück. »Damit du wieder auf die Beine kommst.«
Jacob nickte dankbar. »Morgen komme ich wieder ins Kontor, Herr Crüsemann. Beim Arbeiten laufe ich ja kaum, es lässt sich vieles im Sitzen erledigen.«
»Das werden wir sehen. Schlaf dich erst einmal aus«, meinte Eduard.
Am nächsten Morgen humpelte Jacob mit zwei passablen Krücken unter den Achseln ins Kontor und bat bei seinen Kollegen um Entschuldigung für die Folgen seiner Unachtsamkeit auf der häuslichen Treppe.
***
Eduard berichtete Heinrich von Fischer von seinem Gespräch mit Samuel Cunard und dessen erfolgreiche Amerika-Passagen. Er verschwieg dabei nicht, dass es ihm durch den Kopf ging, selbst im Auswanderer-Geschäft tätig zu werden.
»Mir ist klar, dass ich im Moment nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfüge. Um ein solches Geschäft aufzuziehen, bedarf es einer ganzen Flotte. Wohlgemerkt: Dampfschiffe! « Eduard forderte seinen bisherigen Lehrmeisters mit einer kleinen Pause zu einer Reaktion heraus, doch von Fischer verzog keine Miene, bis Eduard fortfuhr: »Ich werde nicht nur mehr Kapital, sondern auch Dokumente des Erfolgs ansammeln, damit die Banken mich ernst nehmen und die nötigen Kredite bewilligen. Erst eine volle Auslastung, dann weitere Schiffe in Dienst stellen und langsam wachsen. Das ist mein Plan.«
Jetzt lachte von Fischer. »Das ist die richtige Einstellung, mein lieber Crüsemann. Nichts überstürzen und mit Bedacht vorgehen. Sie reden schon wie ein alter Bremer Kaufmann, der unbeirrt der Meinung ist, er habe alle Zeit der Welt!«
Nachdenklich verabschiedete sich Eduard. Er war sich nicht sicher: Hatte der erfahrene Heinrich von Fischer seine vorsichtige Planung gelobt oder ihn über mangelnden Unternehmermut ausgelacht?
***
Kurze Zeit später hatte Eduard einen Brief aus Schweden auf dem Pult. Absender war die Gesellschaft, für die er Holz nach Minden geliefert hatte. Der schwedische Eigentümer äußerte Zufriedenheit mit der ersten Lieferung. »Es ist ein weitergereichtes Lob meines Mindener Kunden«, ließ der Schwede wissen. »Bei Einverständnis zum anliegenden Kontrakt für ein dreijähriges Kontingent über Holzlieferungen von Bremen nach Minden im Zwei-Monats-Turnus – unsererseits bereits unterschrieben – bitten wir um Gegenzeichnung und Rücksendung der Zweitschrift.«
Eduard bat Jacob, das Angebot zu bewerten. Der erkannte sofort: »Das bringt uns einer passablen Auslastung der ›Henriette‹ ein ordentliches Stück näher. Regelmäßige Transporte sind wesentlich einfacher zu planen.« Mit einem freundlichen Anschreiben versehen, sandte Eduard den unterschrieben Kontrakt zurück nach Schweden.
***
Am selben Abend erhielt Eduard eine Depesche von seinem Vater. Der teilte ihm mit, dass er zwischenzeitlich intensive Geschäftskontakte zu einigen großen Stoffhändlern in Nordamerika geknüpft hätte. Er suche jetzt einen Reeder, der ihm seine Waren über den Großen Teich schifft. »Ist das mit der ›Charlottenburg‹ möglich?«, fragte er an.
Diese Frage inspirierte ihn, seine eigenen Wünsche mit einzubeziehen. Es könnten bei solch einer Frachtfahrt auch Passagiere an Bord sein! Zunächst nur im ersten Deck, da die ›Charlottenburg‹ für Zwischendeck-Passagiere zu klein war. So aber wäre zu erfahren, ob das Geschäft mit den Auswanderern lukrativ genug ist, um sich weiter damit zu befassen.
Eduard dachte lange darüber nach, wie die ›Charlottenburg‹ für die Amerikafahrt einzusetzen sei, ohne seine Englandkontakte zu vernachlässigen. Da die ›Henriette‹ vertraglich gebunden war, gab es nur eine Lösung: Er benötigte ein weiteres Schiff, um in dieser Zeit die Chancen einer Amerikalinie herauszufinden.
***
Eine Woche später wurde ihm der Zweimastgaffelschoner »Bremen III«, eines Bremer Reeders zur Charterung angeboten. Das Schiff war in ordentlichem Zustand. Nach schneller Einigung verfügte Eduard über ein drittes Schiff, das er für die Englandfahrt einsetzen konnte.
Er schickte eine Eildepesche an seinen Vater, in der er ihm mitteilte, dass er ab sofort seine Waren mit der Reederei Crüsemann über den Großen Teich schicken kann.
***
A delheid Mühlenbeck war in der Reederei & Handelscompagnie Crüsemann für die Rechnungsbücher und die Kassen verantwortlich und führte beides gewissenhaft. Sie schrieb die Rechnungen und verwaltete die Kasse und achtete darauf, dass Forderungen nicht in Verzug gerieten. Die Bargeldbestände wurden akribisch überwacht. Außer ihr hatte nur Eduard Zugriff auf Kasse und Stahlschrank.
Eduard schätzte seine gewissenhafte Mitarbeiterin. Ihre freundliche Fröhlichkeit kam bei Kunden und Kollegen gleichermaßen gut an. Zudem war sie eine ausgesprochene Schönheit. Er wunderte sich oft, dass sie nicht unter der Haube war. Wäre sie vor Henriette in sein Leben getreten … nein, diesen Gedanken wies er von sich, wenn er unter Freunden manchmal sagte: »Sie ist der lebende Beweis dafür, dass die Bremer Männer blind sind.«
Die Handelsgeschäfte waren ertragreicher als der Verdienst in vielen anderen Zünften. Als Eduard eines Abends nach den Tageseinnahmen fragte, zählte Adelheid 140 Goldthaler und 220 Silbergroten auf ihren Arbeitstisch. Das war mehr als üblich.
Nur, weil es schon spät war, ordnete Eduard an: »Wir schließen das Geld im Kontor ein. Morgen früh bringen Sie es bitte gleich zur Bank. Ich gebe Ihnen den Fritz aus dem Lager zur Bewachung mit. An den werden sich die Spitzbuben so schnell nicht herantrauen!«, war er überzeugt.
Die Kaufmannszunft weckte in diesen Zeiten Begehrlichkeiten bei zwielichtigen Burschen. Wer nach Geld aussah, war auf den Straßen nicht sicher. Seit Dänemark dem Deutschen Bund den Krieg erklärt hatte und in Bremen und weiten Teilen Preußens eine Bürgerrevolution ausgebrochen war, trieb sich allerlei Gesindel herum.
Der auf Lebenszeit gewählte Bremer Bürgermeister Diederich Meier war vor einigen Tagen auf den Rathausbalkon getreten und rief den aufgebracht zusammengelaufenen Bürgern auf dem Marktplatz zu: »Wat wüllt je denn?««
Die Menge rief: »Wie wüllt ne Repüblik hebben!«
Meier antwortete: »Je hebbt doch schon ne Repüblik!«
Darauf das Getümmel: »Denn wüllt wie noch ene hebben!« Eduard dachte halb schmunzelnd und halb besorgt daran. Zeigte es ihm doch, wie wenig sich die meisten Menschen mit diesen revolutionären Zeiten auseinandersetzten. Das führte zwangsläufig zu Spannungen und vermehrte die Kriminalität.
Es war schon dunkel, als die Kassenbox im Stahlschrank verschwand. Fräulein Mühlenbeck löschte die Petroleumlampen und schickte sich an, gemeinsam mit Eduard im letzten Dämmerlicht das Kontor zu verlassen. Vor der Tür zum Treppenhaus stutzten sie – von dort drang lautes Gepolter zu ihnen.
Die Tür wurde aufgerissen, zwei finstere Kerle stürmten ins Kontor. Im Schein ihrer Petroleumfunzel hatten sie Dolch und Vorderlader 4) im Anschlag. Dennoch glotzten die Eindringlinge überrascht, als sie unvermittelt vor Eduard und Adelheid standen, die ebenfalls aus dem Konzept gebracht und starr vor Schreck waren.
Adelheid stieß einen Angstschrei aus.
Die Gauner fingen sich schneller und brüllten: »Alles Geld her! Los! Sofort!«
Eduard versuchte ruhig zu bleiben, griff in die Tasche seines Gehrocks und kramte seine Geldbörse hervor. Er hatte ein paar Silbergroten und Kupferschwaren bei sich und drückte sie einem der Spitzbuben wortlos in die Hand.
Der andere Räuber hatte eilig die Flamme der Petroleumlampen vergrößert, um den Raum besser zu überschauen. »Du bist wohl ein ganz Schlauer!«, herrschte er Eduard an. »Meinst du, wir wüssten nicht, dass in dem Eisenschrank dahinten mehr Zaster steckt. Schließ auf, wenn ihr hier weiterleben wollt!«
Adelheid zitterte am ganzen Körper, stammelte aber tapfer: »Wir haben keinen Schlüssel für den Schrank. Ich glaube nicht, dass da Geld drin ist. Die Geschäfte laufen schlecht und unser Lohn ist auch noch nicht bezahlt!«
Sie deutete auf Eduard und sich selbst. Der hörte staunend Fräulein Mühlenbeck zu, die anfing, sich in Rage zu reden:
»Der Reeder ist in Oldenburg und versucht neue Aufträge zu bekommen, damit unsere Schiffe ausgelastet werden. Er hat gesagt, wenn er mit neuen Ladungskontrakten zurückkommt, bekommen wir auch unseren Lohn! Lasst uns in Frieden, wir sind doch selbst ohne Geld«, flehte sie den Räuber mit traurigen Augen an.
Die Gauner starrten auf Fräulein Mühlenbeck, vergewisserten sich gegenseitig, dass sie den gleichen Eindruck hatten – und stießen derbe Flüche aus.
Der kleinere der Kerle sah Adelheid süffisant an und säuselte plötzlich: »Du bist ja ein hübsches Vögelchen. Wenn das stimmt, dass hier kein Geld zu holen ist, könntest du uns helfen, mit dir ordentlich Taler zu verdienen – als Entschädigung!« Er lachte lüsternd und fing an, Adelheid zu betatschen.
Eduard wurde wütend, vergaß alle Furcht, stieß den Kerl zur Seite und schrie ihn an: »Lass die Finger von ihr! Sie hat kein Geld! Und sie wird bestimmt nicht mit euch gehen!«
Der Spitzbube lachte nur lauter, riss Adelheid den Hut vom Kopf und wollte ihr auch die Jacke von den Schultern zerren.
Jetzt zog Eduard seine Bootspfeife hervor und zischte den Kerl in eindringlicher Ruhe an: »Wenn ihr hier nicht sofort verschwindet und die Dame in Ruhe lasst, werde ich pfeifen. Das bedeutet für unsere Lagerarbeiter Alarm. Sie werden sich freuen, euch Spitzbuben zu verprügeln und der Polizei zu übergeben! « Er sah mit ernstem Gesicht auf die Räuber und hoffte inständig, dass sein Bluff Wirkung zeigte.
»Ha!«, lachte der und fuchtelte mit seinem Vorderlader vor Eduards Gesicht. »Deinem Lagervizen wird es nicht gefallen, eine Ladung Schrot in den Bauch zu bekommen.«
Eduard blieb ruhig. »Was hilft dir ein Schuss gegen sechs Männer?«
Das begriff der andere Kumpan: »Claas, lass uns verschwinden, hier ist nichts zu holen und mit dem Fräuleinchen haben wir nur Ärger!« Er drehte sich um und lief Richtung Tür.
Claas grunzte unwillig und presste dem »Fräuleinchen« zum Abschied einen saftigen Kuss auf den Mund. Adelheid wehrte sich angewidert und gab dem Kerl eine schallende Ohrfeige. Der zuckte verstört zurück und rannte fluchend seinem Kumpan hinterher.
Adelheid und Eduard sahen sich schweigend an. Erleichtert atmeten sie auf.
»Adelheid, das war grandios! Ich bin verblüfft und danke Ihnen herzlich. Wenn Sie eines Tages etwas anderes als Kassenführung machen wollen, wäre die Theaterbühne der rechte Ort. Sie haben Ihre Rolle überzeugend gespielt!«
»Ich war rasend wütend, Herr Crüsemann. Mir sind die Worte nur so aus dem Mund gesprudelt. Wir haben für das Geld doch hart gearbeitet. Und diese Halunken haben dafür nicht einen Finger krumm gemacht«, erklärte Adelheid bescheiden.
»Oje, mit dem Vorderlader hätte der krumme Finger uns Löcher in die Haut gebrannt«, meinte Eduard. Er zog sie aus dem Kontor, schloss die Tür. »Jetzt sind sie davongelaufen und können ihren Kumpanen erzählen, dass bei Crüsemann nichts zu holen ist.« Um Adelheid vor weiteren Angriffen zu schützen, brachte er sie direkt nach Hause. »Sie haben sich heute eine Extra-Gratifikation verdient!«, versprach er ihr zum Abschied.
***
Am nächsten Morgen grübelte Eduard im Kontor über das Geschehen des gestrigen Abends nach. Als Fräulein Mühlenbeck kam, sprach sie sofort aus, was er die ganze Zeit überlegte: »Ob die Spitzbuben wussten, dass wir an diesem Abend eine lohnende Summe Geld in dem Schrank aufbewahrten?«
»Darauf suche auch ich eine Antwort. Müsste es nicht jemand sein, der hier arbeitet oder ständig ein und aus geht?«, überlegte Eduard.
»Nur Sie und ich wussten von dem Geld. Und die Diebe hatten doch ein klares Ziel«, warf sie ein.
»Und wenn es jemand war, der am Tag viel bezahlt hat, also einer unserer Kunden!« Eduard ging im Geiste seine Kunden und Lieferanten vom gestrigen Tag durch, konnte sich aber nicht vorstellen, wer Kontakt zu derart kriminellen Subjekten haben sollte.
»Vielleicht ein Zufall. Sie wussten nichts und hofften nur. Ein Stahlschrank ist doch für Wertsachen und Geld gemacht und in vielen Kontoren üblich«, überlegte Adelheid.
Vorsichtshalber meldete Eduard den Vorfall der Polizeidirektion. Ein Kommissar hörte ihn an und seufzte: »Damit haben wir Fall Numero vier. Drei andere Einbrüche in gleicher Form wurden uns in den letzten drei Tagen schon gemeldet, können Sie uns die Täter beschreiben?«
Eduard gab seine Erinnerungen zu Protokoll und war auf dem Rückweg ins Kontor überzeugt, dass Fräulein Mühlenbecks Zufallstheorie stimmte. Wären sie nur ein paar Minuten früher in den Feierabend gegangen, – am nächsten Morgen hätten sie einen leeren Stahlschrank mit aufgebrochenem Schloss vorgefunden.
Eine Woche später erfuhr er, dass die Eindringlinge bei einem weiteren Kontoreinbruch gefasst wurden. Der Besitzer hatte nachts Hunde auf dem Gelände gehabt. Die hielten die Einbrecher in Schach, bis die Polizei kam.
Inzwischen war die »Bremen III« eingetroffen. Der Schoner lag am Kai und wurde vom neuen Kapitän Edward Brodie genau inspiziert. Er war Nordire und für die Englandfahrt bestens geeignet.
Die »Charlottenburg« lag direkt daneben und wurde unter der Anleitung von Kapitän Ohlsen für die Amerikafahrt umgerüstet. Das Lager war randvoll mit Seidenballen aus Berlin. In zwei Wochen sollte die Reise losgehen.
Käptn Ohlsen war überzeugt, es sei besser, im Dezember aufzubrechen als erst im Januar oder Februar, weil dann die Winterstürme die Reise zum Höllentrip werden ließen.
Eduard hatte für die Überfahrt nach Boston 26 Passagiere, die Fracht von seinem Vater und einige Kisten mit geschnitzten Heiligenfiguren für die Kirche in Boston an Bord. Das Schiff war voll beladen und Eduard war mit den Einnahmen der ersten Fahrt zufrieden. Für die Rückfahrt der »Charlottenburg« standen in New York Lederhäute für süddeutsche Schuhmanufakturen auf der Ladeliste.
Am 16. Dezember 1848 legte das Schiff um sechs Uhr früh vom Pier ab und verschwand unter glückwünschenden Abschiedsrufen langsam in der Dunkelheit des Flusses. Spontan faltete Eduard die Hände für ein stilles Gebet. Er hatte großes Vertrauen in die Fähigkeiten von Kapitän Ohlsen, doch die Gefahren auf dem Meer waren unberechenbar. Vielleicht waren die Heiligenfiguren an Bord ein Garant für die erste Atlantiküberquerung eines seiner Schiffe.
***
Anfang Januar fand der Prozess gegen die Gauner statt, die in der Reederei & Handelscompagnie Eduard Crüsemann einbrechen wollten und ihn sowie Adelheid Mühlenbeck bedroht hatten. Zusammen mit anderen Geschädigten waren sie jetzt als Zeugen geladen.
Die Spitzbuben saßen wie Elendshäufchen auf der Anklagebank, streng bewacht von zwei Polizeidienern.
Fräulein Mühlenbeck wurde gesondert befragt, weil sie die Einzige war, die tätlich angegriffen wurde. Nach der Zeugenvernehmung beriet der Richter sich mit den Schöffen, Anklagevertretern und dem verordneten Fürsprecher der beiden Gauner.
Eine halbe Stunde später stand das Urteil fest und wurde sogleich verkündet: Es gab für beide sechs Jahre schweres Zuchthaus und für Claas, wegen seiner Angriffe auf Adelheid Mühlenbeck 50 Stockhiebe zusätzlich. Beide brachen in Tränen aus und flehten um Milde. Die Polizeidiener ließen sich davon nicht beeindrucken, sondern zerrten die an Händen und Füßen Gefesselten aus dem Saal.
»Das nenne ich mal ein gerechtes Urteil, oder was meinen Sie Herr Crüsemann?«, wollte Adelheid wissen.
»Ja, das Urteil ist hart, aber gerecht!«, stimmte er ihr zu. »Die beiden können von Glück sagen, dass schon die reformierten Gesetze gelten. Ein Jahr zuvor wäre ihnen Schlimmeres geschehen.«
Hochzeitsplanung
Um seine bevorstehende Hochzeit mit Henriette zu planen, reiste Eduard eine Woche später nach Berlin. Es gab für das große Fest unendlich viel zu bedenken. Wie und wo gefeiert wird, wer auf die Einladungsliste gehörte und wie die Tischordnung gestaltet würde. Das Essen mit seinen einzelnen Gängen und den Getränken galt es zu besprechen. Und dann war da noch der Kirchgang, denn der Pfarrer verstand sich nicht besonders auf die weltliche Bedeutsamkeit einer Eheschließung in gehobenen Kreisen.
Bei seiner Ankunft schloss Henriette ihren Eduard überglücklich in die Arme.
»Mama und Papa haben zusammen mit deinen Eltern schon das Menü zusammengestellt«, erklärte sie zufrieden. »Das Hochzeitsmenü ist im Hause meiner Eltern geplant, weil es persönlicher ist als in einem Etablissement! Der Hochzeitsball wird am nächsten Tag in deiner Familie stattfinden und beginnt schon am Nachmittag im Garten.«
»Wie viele Gäste werden kommen?«, fragte Eduard. Er war froh, dass die Organisation schon fest umrissen war. Sein Kopf war zu voll mit seinen geschäftlichen Vorhaben.
Henriette machte ihm das schnell klar: »Wenn deine und meine Eltern alle gesellschaftlichen Verpflichtungen berücksichtigen und wir unsere Freunde und Freundinnen hinzuzählen, kommen ungefähr 280 Personen zusammen.« Dann drückte sie Eduard fröhlich eine Schriftrolle in die Hand.
»Was ist das?«, fragte er.
»Das ist unser Menü-Vorschlag. Du kannst noch Änderungen anmerken, so ist alles machbar!«, erklärte Henriette. Eduard öffnete die Rolle und las:
Hochzeitsmenü
anlässlich der Vermählung
des Reeders und Kaufmanns
Eduard Crüsemann mit Henriette Böhm
Tochter des Farbenfabrikanten Nicolaus Böhm
wird folgendes Hochzeitsmenü credenzt.
1. Gang | Moc-Turtle-Suppe |
2. Gang | Klopffleisch mit Orangen- und Trüffel-Sauce nebst vier feinen Gemüsen |
3. Gang | Dorsche mit Austernsauce |
4. Gang | Rehrücken mit Morcheln, Sauce und gebratenen Kartoffeln |
5. Gang | Perlhühnchen in Aspik |
6. Gang | Forellen mit Citronensauce |
7. Gang | Makrelen mit Mayonnaisensauce |
8. Gang | Fasanen und Krammetsvögel in Trüffel-Sauce |
9. Gang | Vol aux vents mit Froschkeulen und Champignons |
10. Gang | Gefüllte Spanferkel mit Krabbensauce und Rothkohl |
11. Gang | Rehkeule und Rebhühner mit verschiedenen Gelees und Kompott von Apfelsinen, Birnen, Quitte, Mandeln, Weintrauben und Melonen |
12. Gang | Eistorte mit Lübecker Marzipan und Mandeln |
13. Gang | Rheinwein-Gelee mit gestürzter Creme von Schlagsahne |
14. Gang | Wiener Torte mit Makronen |
15. Gang | Caffee, Tee oder türkischen Mocca mit diversen Früchten |
Erlesene Roth-, Rosé-, Weiß-, oder Portweine sowie Champagner zum jeweiligen Gang.
Charlottenburg, den 24. Juni 1849
Eduard war überwältigt und sah in die erwartungsvollen Augen seiner Braut. »Wunderbar! Ich habe gar nicht gewusst, dass es das alles gibt. Ich bekomme jetzt schon Hunger auf diese Köstlichkeiten. Aber wer wird das denn alles kochen?«
»Das ist schon gelöst. Unser Gesinde wird durch eurer Gesinde verstärkt und durch die Kontakte zum Hofe hat der König es sich nicht nehmen lassen, uns Maître de Cuisine Alexandre Busson zur Verfügung zu stellen!«
Eduard nickte nur. »Habt ihr denn den Ball gleichfalls so genau geplant?«
»Damit lassen wir dir den Vortritt. Du bist ja ein guter Tänzer und hast bestimmt deine eigenen Vorstellungen«, erklärte Henriette generös.
»Liebste Henriette. Ich sehe, dass du viel Freude an den Vorbereitungen hast. Ich glaube, dass auch dieser Teil unserer Festivitäten bei dir in guten Händen ist!« Eduard strahlte sie an und hoffte, dass Henriette diesem Vorschlag zustimmte.
»Einverstanden. Deine Ideen kannst du deinen Eltern verraten. Sie sind mit gleicher Freude dabei, – und es ist ja auch ihr Haus und ihr Garten. Aber dir erzähle ich jetzt nichts mehr, du musst dich überraschen lassen«, lachte sie verschmitzt.
Henriette und Eduard wurden in das Hochzeitsregister von Charlottenburg eingetragen und die Trauzeugen benannt. Das Trauungsgespräch mit dem Hauptpastor von Charlottenburg hatten sie bereits geführt.
Eduard fuhr am nächsten Abend mit der Nachtkutsche zurück in Richtung Bremen. Er wusste, dass dort eine Menge Arbeit auf ihn wartete und versuchte in eine Ecke gekauert zu schlafen, doch immer wieder wurde er durch harte Stöße aus seinen Träumen gerissen, an die er sich augenblicklich nicht mehr zurückerinnerte.
Als er nach einer Woche wieder im Kontor war, trat er ans Fenster und sog das Bild seiner Schaffensstätte in sich hinein: Die Weser, der Hafen und die »Henriette«, die am Pier wieder einmal mit schwedischem Holz für Minden beladen wurde. Hier fühlte er sich mehr zu Hause als in Berlin, wo er aufgewachsen war. Würde es für Henriette ebenso sein? Er konnte es sich nicht anders vorstellen. Jacob Hansemann und Fräulein Mühlenbeck hatten die Compagnie in seiner Abwesenheit gemeinsam geführt. Als sie ihm die geschäftlichen Vorgänge berichteten, hatte nichts zu beanstanden.
***
Die Deutsche Nationalversammlung hatte den Verfassungsentwurf eines Deutschen Kaiserreichs ohne Österreich im März 1849 mit 290 gegen 243 Stimmen angenommen.
Der preußische König wurde damit zum Kaiser. Doch König Friedrich Wilhelm IV lehnte die Kaiserkrone energisch ab, um eine Revolution zu verhindern. Diese Einigkeit Preußens war getrieben vom deutsch-dänischen Krieg und sollte zur schnellen Beendigung dieses Scharmützels beitragen. Der kurz zuvor ausgebrochenen Revolution in Paris hatte ein vereintes Preußen jetzt wesentlich mehr entgegenzusetzen.
Eduard hoffte, ebenso wie die übrige Bremer Kaufmannschaft, dass sich in politisch stabileren Zeiten der Handel über die Landesgrenzen hinaus besser entwickeln würde, als bisher. Die vor allem in Deutschland und England aufbrechende Industrialisierung schien dafür einen lukrativen Beitrag zu leisten. Eduard suchte beständig nach Neuerungen, die in seinem international ausgerichteten Geschäft von Nutzen sein könnten. Als er davon hörte, dass der in militärischen Diensten stehende Ingenieur Wilhelm Bauer in Kiel an einem Unterwasserschiff experimentierte, stellte er sich sogleich vor, eines Tages mit solch einem Schiff für andere unsichtbar unter der Wasseroberfläche umherzufahren. Wäre es möglich, auf diese Weise der Gefahr von Wind und Wellen zu entgehen? Wie angenehm wäre es dann, mit solchen Unterwasserschiffen Frachten und Menschen nach Amerika oder Asien zu transportieren!
Um seine spannenden Pläne weiter zu verfolgen, überlegte Eduard, ein eigenes Netzwerk mit Partnern in Amerika, Südeuropa und Asien aufzubauen. Ihm war bald klar, dass der Nutzen hieraus nicht ohne Investitionen zu erzielen war. Banken verließen sich jedoch nicht auf Ideen, sie brauchten Beweise für Fähigkeiten und Wachstum.
In den nächsten Wochen führte Eduard diverse Gespräche mit Bremer Kaufleuten und Reedern und stellte fest, dass er auf Grund seiner Erfolge und des gelungenen Auftakts seiner Compagnie in der Achtung der alteingesessenen Kaufmannsgilde stetig gestiegen war. Nicht, dass sie ihn als derart ebenbürtig empfanden, dass sie ihn in ihre elitären Clubs oder zu Empfängen eingeladen hätten, nein, solch eine Freundschaft hatte in Bremen eine längere Reifezeit. Dass seine kaufmännischen Entscheidungen nicht mehr belächelt wurden und sogar Nachahmer fanden, zeigten ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. Und wenn man schließlich Rat und Meinung von ihm erfragte, dann konnte er auch das Vertrauen der Banken erlangen.
Mit der Bremer Bank führte er Gespräche darüber, seine Aktivitäten im Amerika-Geschäft behutsam aber kontinuierlich auszubauen. Zunächst war die »Charlottenburg« dafür eingesetzt, Erfahrungen zu sammeln. Er selbst wollte nach Amerika und Westindien reisen, um die Möglichkeiten vor Ort zu sondieren. Doch was nützen ihm die kühnsten Ideen, wenn er das ihm mögliche Investitionsvolumen nicht kannte? Das galt es auszuloten.
In der Bank hatte man Achtung vor seinem Erfolg in Handel und Schifffahrt. Doch er war kein Bremer Kaufmann mit Familientradition. Eine schier unüberwindbare Hürde. Hatte er nur Anfängerglück? Die Bankherren versteckten ihre Zweifel in der Zurückhaltung gegenüber seinem jungen Alter. Große Geschäfte verlangten nach langjährigen Erfahrungen, hatte man ihn schon oft wissen lassen.
Eduard hatte sich vor dem Bank-Gespräch tief in Fakten und Zahlen eingearbeitet. Keine Frage durfte aus Unsicherheit unbeantwortet bleiben. Bankdirektor Scharnweber war zunächst verblüfft, einem jungen Kaufmann gegenüber zu sitzen, der Ideen hatte und diese überzeugend vorzutragen wusste. Schließlich war er von ihm begeistert. So bewilligte er dem Kaufmann Crüsemann nach Abwägung der zur Verfügung stehenden Sicherheiten, einen Kontokorrent-Credit bis zu fünfhunderttausend Goldthaler. Der war glücklich, solchen Vertrauensvorschuss zu erhalten. Er nahm sich dennoch vor, nicht übereilt zu handeln, da der hohe Zins stets dann drückte, wenn die Geschäftserträge auf sich warten ließen.
***
Ein Brief aus Amerika bestätigte Eduards Einschätzung. Kapitän Ohlsen berichtete, nach ruhiger Überfahrt in Boston angekommen zu sein. Die Ladung sei unverzüglich gelöscht worden. Bevor er schon abends nach New York auslaufen wollte, hatte er in Boston erfahren, dass dort einige Passagiere auf Gelegenheit warteten, wieder zurück in die Alte Welt zu fahren. 14 von ihnen wollte er an Bord nehmen.
Eduard fiel ein Stein vom Herzen. Die erste geglückte Atlantiküberquerung! Und Käptn Ohlsen hatte dabei mehr als Seemannskönnen bewiesen; er hatte ausreichend Fracht und Passagiere für die Rücktour aufgenommen. Die »Charlottenburg« hatte sich für Atlantik-Überquerungen nach Boston und New York bewährt. Die Rückreise sollte weitere Häfen und die Westindischen Inseln einschließen. Käptn Ohlsen würde bei seiner Rückkehr berichten, ob in dieser Region Aussichten für Frachtverkehr bestünden.
***
Mit dem nahenden Hochzeitstermin drängte die Zeit, ein gebührliches Zuhause für die Familiengründung zu finden. Eduards derzeitige Wohnung war dafür zu klein. Er strebte eine Adresse in jenen Vierteln an, in denen Bürger gehobenen Standes wohnten. Das würde seinen Platz in der Gesellschaft verbessern. Und für Henriette wäre es die richtige Nachbarschaft, damit sie bald in Bremen heimisch würde und sich nicht nach Berlin zurücksehnte.
Eduard sprach mit seiner Beschließerin über seine Pläne. Anna Schulze bot ihre Hilfe an: »Meine Schwester Adele ist Beschließerin in einem herrschaftlichen Haus in der Straße Am Wall. Von ihr erfuhr ich, dass dort eine große Belle-Etage-Wohnung frei wird, – sogar mit Dienstbotenzimmer! Gern frage ich nach einem Besichtigungstermin und sage Ihnen baldmöglichst Bescheid.«
Eduard dankte Anna und steckte ihr einige Kupferschwaren zu, die sie flink in ihrer Kittelschürze verschwinden ließ.
Am nächsten Tag legte die »Bremen III« am Pier an. Sie war zurück von Frachtgeschäften in London und Hull und war die Ostküste der Insel hinauf bis nach Dundee gesegelt, um dort eine große Menge schottischen Whiskys für Berlin und St. Petersburg an Bord zu nehmen. Als Eduard aus dem Kontorhaus trat, leuchteten ihm die roten Haare von Edward Brodie entgegen. Er stand am Ruderhaus und beaufsichtigte die Männer, die mit großer Vorsicht schwere Eichenfässer aus der Ladeluke hievten.
»Das ist die wertvollste Fracht, die ich in meinem Seemannsleben über die Meere geschippert habe!«, rief er Eduard zu und deutete lachend auf die Whiskyfässer.
Jemand rief nach Eduard:
»Herr Crüsemann, Herr Crüsemann, ich habe alles für Sie geklärt!« Anna Schulze hetzte mit hochrotem Kopf den Kai hinunter und stürmte auf Eduard zu: »Ich habe mit meiner Schwester gesprochen. Die Herrschaften sind vor zwei Tagen ausgezogen, die Räume sind frei, aber bisher nicht renoviert. Wenn Ihnen das nichts ausmacht, kommen Sie gern heute Nachmittag zur Besichtigung. Meine Schwester erwartet sie im Haus Am Wall 8!«
Anna Schulze rang nach Luft. Zufrieden mit sich und ihren Vermittlungsbemühungen lächelte sie Eduard an. »Wenn es passt, gilt es schon als abgemacht.«
»Ich werde gegen vier Uhr dort sein«, versprach Eduard. Das Haus war ihm bei einem Informationsspaziergang in dem Viertel als eines der respektabelsten Stadthäuser aufgefallen. Dort zu wohnen schaffte gesellschaftlichen Rang.
Am Nachmittag läutete die Türglocke des Hauses Am Wall No. 8. Als sich die mit kunstvoll geschmiedeten Rosen und buntem Glas verzierte Tür öffnete, sah er verblüfft in das Gesicht von Anna Schulze. Die Frau bemerkte sein Staunen und klärte lachend auf, bevor er fragen konnte: »Ich bin Adele, die Zwillingsschwester von Anna. Sie sind doch Herr Crüsemann, nehme ich an.«
Der konnte seine Verwunderung kaum verbergen und stotterte verlegen: »Ja, bin ich. Aber solch eine Ähnlichkeit, das ist schon erstaunlich. Ihre Schwester hat mir nicht erzählt, dass Sie Zwillinge sind.«
»Es ist lustiger, wenn es nicht jeder weiß«, grinste Adele verschmitzt, »dadurch kann jede von uns einmal die andere sein«. Dann führte sie ihn in die elegante, geräumige Wohnung in der zweiten Etage, wo es sogar schon eine moderne Wasserspülung und fließendes Wasser gab. Außerdem einen prachtvollen Kamin im großen Salon. Die Küche und Gesinderäume waren separat im hinteren Teil der Wohnung untergebracht.
Eduard war von der Großzügigkeit der Wohnung begeistert.
»Es soll jetzt noch renoviert werden. Tüncher und Tischler sind schon bestellt. Es ist einiges zu richten. In vier Wochen wird alles fertig und trocken sein«, war Adele überzeugt.
»Ich habe einige Wünsche für Möbel, die der Tischler mir nach den häuslichen Maßen anfertigen kann. Sagen Sie ihm doch bitte, er möge sich bei mir melden«, erklärte Eduard. Dann fragte er nach dem Mietzins und war angenehm überrascht, einen annehmbaren Preis zu hören.
»Gern würde ich die Wohnung zum ersten Juni anmieten, Adele. Ich heirate Ende Juni in Berlin und meine Braut – dann ist sie meine Frau – kommt nach unserer Hochzeit mit mir nach Bremen. Bis dahin ist ja genug Zeit«, betonte Eduard.
Adele strahlte: »Ach Herrgottchen, das ist aber zu schön! Ein junges Paar in unserem Hause. Der Eigentümer ist der Herr Bankier Rothemund. Er wird sich freuen. Erst neulich hat er zu mir gesagt, Adele, hat er gesagt, es wird Zeit, dass mal wieder jüngere Leute einziehen, sonst wird das hier ein Altenteil. Ich gebe ihm Bescheid, er wird mit den Verträgen zu Ihnen ins Kontor kommen!«
Eduard ging beschwingt nach Hause. Dort kam ihm plötzlich alles beengt vor und er zählte die Tage, bis er endlich mit Henriette zusammen in der neuen Wohnung leben würde.
***
Ende Mai lief die »Charlottenburg« in den Hafen ein, von Eduard und seinen Mitarbeitern mit Spannung erwartet.
Kapitän Ohlsen erstattete seinem Reeder sofort Bericht. »Wir waren schon in Sichtweite der englischen Kanalküste, als ein heftiger Sturm aufkam. Eine Böe riss die Spitze vom Großmast ab. Mitsamt Takelage und Tuch sauste sie herunter aufs Deck und zum Teil außenbords. Zwar gelang die Bergung, aber die Reparatur in aufgewühlter See kostete Zeit – wir haben drei Tage verloren.«
Eduard antwortete spontan: »Wir wissen, dass die Seefahrt ein hartes Leben ist. Dennoch ist es für uns nicht vorstellbar, wie gefahrvoll die Seefahrer die Naturgewalten bezwingen, während bei uns die Sonne scheint. Lasst uns die glückliche Heimkehr feiern. Seid alle willkommen – am späten Nachmittag im Lagerhaus.«
Als die ›Charlottenburg‹-Besatzung im Lagerhaus eintraf, jubelte sie beim Anblick eines dampfenden Buffets. Seit drei Wochen hatten sie nichts Frisches in den Magen bekommen. Jetzt wähnten sie sich im Schlaraffenland und labten sich an herzhaften Speisen und kühlem Trunk aus dem Fass mit Bremer Bier.
Am nächsten Morgen ließ Eduard sich von Käptn Ohlsen ausführlicher von der Reise berichten. Die Häfen Boston und New York schienen ihm die lukrativsten Ziele für eine beständige Linie.
Ohlsen schwärmte von beiden Städten in den höchsten Tönen, von den großzügigen Straßen, den eleganten Läden, von bezaubernden Frauen und hinreißenden Etablissements. Brauchbares über Geschäftsmöglichkeiten entdeckte Eduard nicht darunter. »Ich bin im Herzen ein Seemann, kein Kaufmann! «, entschuldigte sich der Käptn achselzuckend.
Eduard sah sich bestätigt, dass er selbst nach Amerika reisen musste; nur er konnte die Möglichkeiten für zukünftige Geschäftsentwicklungen aufspüren und anknüpfen. Er zahlte der Besatzung eine großzügige Heuer für ihre zwölfwöchige Reise aus und wünschte, dass alle bei bester Gesundheit an Bord sind, wenn die nächste Amerika-Reise ansteht..
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In den nächsten Wochen war Eduard viel damit beschäftigt, Vorbereitungen für die Einrichtung der neuen Wohnung zu treffen. Er besprach sich mit Handwerkern und überwachte die Arbeiten, um jedes Detail perfekt zu sehen. Es blieb ein Rest, der gemeinsam mit Henriette vollendet werden sollte, damit in der Wohnung die Persönlichkeit der Hausfrau zu erkennen ist.
Alles war rechtzeitig fertig, als Eduard am Morgen des 18. Juni in die Postkutsche nach Berlin kletterte. Seine Compagnie hatte er bei Jacob Hansemann und Adelheid Mühlenbeck in vertraute Hände gegeben, um Henriette mit einer zweiwöchigen Hochzeitsreise ans Meer zu überraschen. Diese neue Hochzeits-Gepflogenheit hatte er in England kennengelernt und freute sich auf die Tage der Zweisamkeit als Ehepaar.
Sein Schwiegervater, der eingeweiht war, stellte ihm sein Strandhaus an der Ostseeküste zur Verfügung und sein Vater spendierte für diese Reise seine vierspännige Landauer Kutsche nebst Kutscher. Das weiße, gemütliche Sommerhaus lag direkt am Strand und verfügte über ausreichend Platz für entspannte Flitterwochen. Henriette und Eduard würden dann erst Mitte Juli in Bremen eintreffen.
Vor seiner Abreise hatte Eduard etliche Anweisungen und Aufgaben an Jacob und Adelheid übertragen. Die meisten betrafen die bevorstehende Abreise der »Charlottenburg« nach Amerika. Diesmal hatten sich schon 32 Passage-Passagiere eingefunden. Der Frachtraum war ebenfalls nahezu ausgebucht.
Fast kam ihm sein Fernbleiben vom eigenen Geschäft als zu großzügig bemessen vor. Seine Kontakte in Bremen und England nahmen zu und verlangten ihre Pflege, um auskömmliche Frachtraten für seine drei Schiffe zu erzielen und das Lagerhaus mit Umschlags-Waren zu füllen. Es mehrten sich Anfragen zur Warenlieferung von und nach Braunschweig, Celle, Lüneburg oder Oldenburg. Es galt zu erwägen, auch Pferdefuhrwerke anzuschaffen, um Waren auf dem Landweg zu transportieren. Da er auf dem Weg nach Berlin viel Zeit hatte, stellte er hierüber Rechnungen über Kosten und Nutzen auf. Am Ende ergab sich, dass das Fuhrgeschäft – ebenso wie der Schiffsbetrieb – im Linienverkehr am einträglichsten sein würde.
Details
- Seiten
- Erscheinungsform
- Originalausgabe
- Erscheinungsjahr
- 2018
- ISBN (ePUB)
- 9783944459950
- Sprache
- Deutsch
- Erscheinungsdatum
- 2018 (August)
- Schlagworte
- Segelschifffahrt Dampfschiffahrt Gründerzeit 19. Jahrhundert Norddeutscher Lloyd Hapag Auswanderer Seehandel Schiffahrt Bremen Bremerhaven